Dr. Matthias Burchardt als Festredner bei der Vertreterversammlung des Philologenverbandes Rheinland-Pfalz 2017 - Lernen ist Beziehung: Eine Absage an die Kaspar-Hauser-Pädagogik

BLICK 303

Foto: Cornelia Schwartz

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Fördern Sie schon individuell oder differenzieren Sie noch?

Wohin man schaut, ob ins Schulgesetz, in die Schulordnung oder in den Orientierungsrahmen Schulqualität, die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern hat die fast schon klassisch anmutende Differenzierung abgelöst. Wie, so scheint die Frage, soll man denn mit einer Einteilung in zwei oder drei Leistungsebenen tatsächlich ALLEN Schülerinnen und Schülern einer Klasse oder eines Kurses wirklich gerecht werden? Wie alle ansprechen? Die neue Zauberformel heißt individuelle Förderung und hat die Differenzierung auf den verschiedenen Leistungsebenen abgelöst.

Natürlich ist jeder Mensch einzigartig und möchte auch so wahrgenommen werden. Individuelle Förderung scheint also die notwendige Reaktion auf diese Erkenntnis zu sein. Allerdings prallen Anspruch und Wirklichkeit dabei aufeinander, und die Frage ist: Wie soll eine Gymnasiallehrkraft alle ihre 150 bis 300 oder mehr Schülerinnen und Schüler individuell fördern? Sollte das Vorhaben der individuellen Förderung konsequent umgesetzt werden, hätte dies weitreichende Konsequenzen: Mit der individuellen Förderung ist letztlich die Abschaffung von Unterricht (Unterricht im Sinne einer Vermittlung von Wissen durch Lehrkräfte an Schülerinnen und Schüler) geplant: Lehrkräfte sollen zu Lernbegleitern werden.

Zwischen Arbeitsblatt und Bildschirm – Neue Lernkultur oder Kaspar-Hauser-Pädagogik?

So lautet der Vortragstitel von Dr. Matthias Burchardt von der Universität Köln, der bei der Festveranstaltung des Philologenverbandes Rheinland-Pfalz im November als Hauptredner eingeladen ist. Burchardt beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema „selbstreguliertes Lernen“: Dem einsamen Brüten über Arbeitsblättern oder am Computer, der „Kaspar-Hauser-Pädagogik“, wie er sie nennt, erteilt er eine klare Absage. Es sei nicht sinnvoll, die Arbeit von Lehrkräften darauf zu reduzieren, dass sie das Lernmaterial zusammenstellen und kontrollieren, ob die Schülerinnen und Schüler ihr Arbeitspensum erfüllen.

Selbstbewusst setzt Burchardt dem selbstregulierten Lernen ohne Lehrkraft die fachliche und persönliche Autorität von Lehrerinnen und Lehrern entgegen, die nach guter aufklärerischer Tradition zur Mündigkeit erziehen – sie erziehen zur Mündigkeit, aber sie setzen die Selbständigkeit nicht schon voraus. Liest oder hört man Burchardt, merkt man, dass es ihm elementar wichtig ist, wie es in der Bildung weitergeht – nicht zuletzt, weil er auch Vater von Schulkindern ist. Es macht ihm etwas aus, wenn pädagogische Kernaufgaben wie die Rückmeldung zur Schülerleistung nur noch oberflächlich ausgeführt werden können, weil die Konzentration auf die unterschiedlichsten Niveaus in einer Klasse die ganze Aufmerksamkeit der Lehrkraft bindet. Er prangert an, dass gerade das, was eigentlich vermieden werden soll, zementiert wird: Die Herkunft der Kinder, das „kulturelle Kapital“ in den Familien, entscheidet über den Erfolg im Schulsystem. Kinder, die zu Hause durch eine gewisse Anleitung auf ihrem Weg in die Selbständigkeit unterstützt werden, sind im Vorteil.

Mut zur Rückbesinnung auf traditionelle Bildung

Auch eine Lernsoftware wie Knewton (ein Wortspiel aus to know und Newton) kann eine menschliche Bezugsperson, den Lehrer oder die Lehrerin, nicht ersetzen. Kinder und Jugendliche brauchen die persönliche Zuwendung, das Vorbild und, wie Burchardt es nennt, die Verbindlichkeit – sie brauchen authentische Lehrerinnen und Lehrer, die ihren Stoff beherrschen und ihre Schülerinnen und Schüler ansprechen. Und so schlägt Burchardt den Bogen zu Hattie und dem Resultat aus dessen Metastudie, die auf über 50.000 Einzelstudien basiert: Auf den Lehrer, auf die Lehrerin kommt es an! Burchardt kämpft an gegen einen Rückzug von Lehrkräften aus dem Unterricht, den Rückzug auf die Rolle des Coaches oder Lernbegleiters. Er macht Mut zur Rückbesinnung auf traditionellen Unterricht, auf das Vermitteln, das gemeinsame Entdecken, Erleben und Diskutieren. Für guten Unterricht braucht es auch die Begeisterung, die sich entzündet, wenn man gemeinsam als Klasse an etwas arbeitet. Oder, um es mit dem Motto des diesjährigen Vertretertages zu sagen: Lernen ist Beziehung.

Es ist die Rückbesinnung auf traditionellen Unterricht, die Burchardt fordert. Traditionen sind nicht schlecht, gerade im Gegenteil: Tradiert wird etwas, weil es sich bewährt hat und für gut befunden wurde und wird. Von dem Komponisten Gustav Mahler (und so oder so ähnlich auch von anderen vor und nach ihm, etwa von Thomas Morus, Benjamin Franklin oder Johannes XXIII.) ist der Satz überliefert: „Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“ Als Philologenverband liegt es uns am Herzen, traditionelle Bildung und traditionellen Unterricht zu leben und weiterzugeben. Wir freuen uns schon einmal auf unseren Festredner, Dr. Matthias Burchardt, am 16. November 2017 um 14.30 Uhr in Schloss Waldthausen bei Mainz.