Wandel und Anpassung
Blickt man als historisch Interessierter auf die letzten 2500 Jahre systematischer Bildungsbemühungen zurück, kann man sich in den gängigen Handbüchern zur Geschichte von Schule und Pädagogik zu den Details über den fortwährenden Wechsel von gesellschaftlichen Herausforderungen und damit einhergehenden Veränderungen in der Organisation von Bildung informieren. Die Bewertung der jeweiligen Anpassungsleistungen fallen dabei naturgemäß subjektiv aus. Es ist davon auszugehen, dass in Deutschland eher die Defizite in der Reaktion auf den gesellschaftlichen Wandel festgestellt werden. Und in der Tat ist die Frage berechtigt, ob eine andere Bildung zum Beispiel das Scheitern der Weimarer Republik abgewendet hätte.
Bildungskatastrophe
In der größeren Öffentlichkeit immer leidenschaftlicher geführte Diskussionen über Bildung und Schule fanden im Nachkriegsdeutschland spätestens ab 1964 infolge des von Georg Picht geprägten Begriffs „Bildungskatastrophe“ statt. Es liegt in der Natur der Sache, dass in den weiteren Bemühungen um Veränderungen im Schulsystem der Begriff der „Bildungskatastrophe“ in seiner Drastik nicht unterboten werden durfte. Der Rufer in der Wüste muss nicht nur über ein lautes Organ verfügen, sondern sich auch des richtigen Wordings bedienen. Da allein aufgrund des eklatanten Stellenzuwachses an den erziehungswissenschaftlichen Seminaren der Universitäten und bei den einschlägigen Stiftungen der pädagogische und politische Diskurs über Schule nicht an Aufgeregtheit und wohlmeinenden (?) Vorschlägen zur Behebung der unterstellten Bildungsmisere verlieren wird, ist damit zu rechnen, dass sich die betreffenden Akteure in Zeiten knapper bzw. durch Sondervermögen wundersam aufgefüllter Kassen vermehrt in die anstehenden Verteilungskämpfe einmischen werden.
Diskurshoheit
Die für die Ressourcenabschöpfung notwendig zu gewinnende Diskurshoheit zwingt die Vertreter „moderner Bildung“ dazu, die mittlerweile etwas angestaubten Ideen der Reformpädagogik des 19. Jahrhunderts in ein zeitgemäßeres Design zu bringen. Wer das Vergnügen hatte, der einen oder anderen Veranstaltung zur „Schule der Zukunft“ beiwohnen zu dürfen, konnte erleben, wie dies durchaus mit höchster Professionalität erfolgt.
Zur Charakterisierung des Gegensatzes zwischen altmodischer „Stoffvermittlung“ und innovativem selbstgesteuertem Lernen wird bei den entsprechenden Events mit heiligem Ernst und ausgefeilten Illustrationen von einem Referenten (der irgendwann einmal zuvor die versammelten Kultusministerinnen tief beeindruckt haben dürfte und jetzt von einem Bundesland zum anderen tingelt) die VUCA-World vorgestellt. Keine Schande, wenn Sie dieses Akronym nicht kennen. Die Homepage der Munich Business School klärt uns auf:
VUCA-World
„VUCA ist ein Akronym, das vier Merkmale beschreibt, die die moderne Welt unsicher und komplex machen:
- Volatilität (Volatility): Schnelle und unvorhersehbare Veränderungen […].
- Unsicherheit (Uncertainty): Schwierigkeiten, zukünftige Ereignisse vorherzusagen […].
- Komplexität (Complexity): Viele miteinander verbundene Faktoren, die es schwer machen, Ursachen und Wirkungen zu erkennen.
- Mehrdeutigkeit (Ambiguity): Unklare oder widersprüchliche Informationen, die unterschiedliche Interpretationen zulassen.“[1]
Keine Angst mehr vor der Zukunft: Die vier Ks
Dass die verwendete Terminologie aus dem Bereich der neoliberal ausgerichteten Betriebswirtschaftslehre entlehnt wird, darf nicht weiter verwundern, werden doch auch Bildungssysteme zusehends auf mehr Effizienz und Outputorientierung getrimmt.[2] Investitionen, auch die in Bildung, sollen sich lohnen und möglichst Rendite abwerfen. Als Reaktion auf die redundant beschriebenen Unsicherheiten empfiehlt der oben erwähnte Referent für die Schule der Zukunft die vier Ks als Garanten für den Bildungserfolg in der Welt von morgen. Über diese erfahren wir durch weitere Recherche:
„Das friedliche Zusammenleben in einer demokratischen, offenen, freien und pluralistischen Gesellschaft muss unter möglichst großer Beteiligung immer wieder neu ausgefochten werden. Die zu lösenden Probleme werden dabei immer komplexer. Deshalb stellt sich nun die Frage, welche Kompetenzen notwendig sind, um junge Menschen darauf ausreichend vorzubereiten. Hier wird in den USA schon länger und in Deutschland immer mehr von den 21st Century Skills gesprochen. Dabei stellen Communication[P2] , Collaboration, Creativity und Critical thinking die vier wichtigsten Cs dar. Die These hierzu lautet: Wer unter gleichzeitiger Anwendung von zeitgemäßer Kommunikation und Kollaboration, Kreativität und kritischem Denken lernt, erwirbt das notwendige Rüstzeug für die Zukunft.“[3]
Wer nun gehofft hatte, dass mit der Hinwendung zu den vier Ks auf die Frage nach der Zukunft eine endgültige Antwort gegeben werde, die es uns erlaubt, zur Tagesordnung zurückzukehren, wird bitter enttäuscht, wenn er beim weiteren Recherchieren lesen muss, dass VUCA doch wieder Schnee von gestern ist, denn es wurde abgelöst von – BANI:
VUCA ist tot, es lebe BANI
„BANI statt VUCA: […]Die Welt ist in Bewegung. Nichts ist mehr so, wie es war. Das VUCA Modell, welches unsere heutige Welt beschreibt, hat ausgedient. Es wird von einem neuen Modell abgelöst: dem BANI Modell. Was bedeutet BANI? Und was sind die Unterschiede zur VUCA Welt? […]Das Akronym setzt sich aus folgendem zusammen:
Brittle (spröde, brüchig)
„Brittleness“ bedeutet Brüchigkeit. Es geht nicht mehr nur um Volatilität, sondern um die plötzliche und unvorhergesehene Erschütterung bis hin zur Zerstörung eines vermeintlich stabilen Systems […].
Anxious (verunsichert)
Die Welt wird mit ihrer Brüchigkeit auch beängstigender […].
Non-linear
In einer non-linearen Welt […] gibt es kein Gesetz von Ursache und Wirkung mehr […].
Incomprehensible (unverständlich)
Der menschliche Verstand kann die Komplexität der Informationen und Geschehnisse nicht mehr vollständig erfassen. Alles beeinflusst alles auf den unterschiedlichsten Ebenen.“
Wenn Sie als Lehrkraft, die bis zu 26 Stunden pro Woche unterrichtet, im Gegensatz zu unseren hier zitierten „Experten“ also eine gewisse Verankerung in der Realität besitzen, es geschafft haben, mit der Lektüre bis zu dieser Stelle durchzuhalten, werden Sie gegebenenfalls mit einem Schulterzucken denken „Schön formuliert, aber was bringt mir das für die Probleme meines beruflichen Alltags?“ Etwas weniger diplomatisch ausgedrückt könnte man feststellen, dass ein Heer von Wissenschaftlern, Bloggern und sonstigen Publizisten, von hochbezahlten Keynote-Speakern sowie Mitarbeitern diverser Stiftungen und Organisationen wie Bertelsmann eine schier unerträglich heiße Luft produziert, die auszuhalten von uns Lehrerinnen und Lehrern ein Höchstmaß an Resilienz erfordert. Leider nützt es wenig, wenn wir Lehrer die Ohren auf Durchzug stellen, denn unglücklicherweise entfaltet das skizzierte Raunen über die Unsicherheiten und Herausforderungen einer disruptiven Zukunft bildungsfeindliche Wirkungen, die zum Beispiel dazu führen, dass ein Ministerpräsident, der selbst einmal Lehrer war, die Notwendigkeit des Fremdsprachenlernens mit dem Argument in Abrede stellt, dass wir dank KI demnächst einen Knopf im Ohr hätten, der mühelose Verständigung über alle Sprachgrenzen hinweg erlaube.
Spinnt man den disruptiven Faden weiter, bleibt im Sinne der progressiven Bildungsexperten wenig von dem übrig, was früher als lernens- und beherrschenswert empfunden wurde. Auswendiglernen? – Ist geistige Bulimie. Kenntnisse in Geschichte? – Unnötig, wenn es doch Wikipedia gibt. Kompetenzen in Geografie? – Wozu, wenn doch Navigationsgeräte in den Autos die Arbeit übernehmen. Aufsätze schreiben? – Erledigt die KI. Usw. usf.
Keine Frage: Bildung und Schule verändern sich im Laufe der Zeit und in Abhängigkeit gesellschaftlicher Herausforderungen. Dass daher, um konkret zu werden, die Auseinandersetzung mit informatischen Themen und Inhalten sinnvoll ist, lässt sich nur schwer bestreiten, dass Künstliche Intelligenz in irgendeiner Weise auch in unterrichtlichen Zusammenhängen mit großem Nutzen eingesetzt werden kann, ebensowenig; dass nun aber die Axt bzw. neuerdings die Kettensäge an die Fundamente einer Bildung gelegt wird, die es immerhin vermocht hat, hin und wieder Nobelpreisträger hervorzubringen, leuchtet schwerlich ein, zumal sich die Bildungsblogger und Pseudoexperten mit ihren wohlklingenden Formulierungen inhaltlich doch auf sehr dünnem Eis bewegen.
Der Philologenverband möchte zusammen mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, die Sie uns in den letzten Personalratswahlen mit einer hohen Zustimmung (genaue Ergebnisse lagen zum Redaktionsschluss noch nicht vor) bestätigt haben, die Diskussion über Herausforderungen und Veränderungen in den Systemen von Schule und Bildung führen, – mit dem Taktstock oder der Pinzette in der Hand, nicht mit der Axt oder Kettensäge.
Jochen Ring
[1] https://www.munich-business-school.de/l/bwl-lexikon/vuca, Zugriff am 07.03.2025
[2] Noch ursprünglicher stammt der Begriff aus der Militärwissenschaft: „Der Begriff VUCA wurde in den 1990er Jahren vom U.S. Army War College geprägt, um die veränderten Bedingungen nach dem Kalten Krieg zu beschreiben. Die Welt war nicht mehr durch klare und stabile Machtstrukturen gekennzeichnet, sondern durch dynamische und oft chaotische Entwicklungen. Dieser Begriff fand schnell Anklang in der Geschäftswelt, da Unternehmen mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind.“ Ebd.
[3] https://mihajlovicfreiburg.com/2017/04/18/kommunikation-kollaboration-kreativitaet-und-kritisches-denken-mehr-als-buzzwords/, Zugriff am 07.03.2025
[4] https://executiveacademy.at/de/news/detail/bani-statt-vuca-so-geht-fuehrung-in-der-welt-von-morgen/, Zugriff am 07.03.2025