Was passiert eigentlich, wenn wir einfach mal abschalten?

Blick 385

Immer im Einsatz?

Das große Thema bei Gymnasiallehrkräften – neben der Sorge um die Qualität schulischer Bildung: die überbordende Arbeitszeit. Klar ist: Für Qualität brauchen wir mehr Zeit – hier stellen wir als Verband entsprechende Forderungen. Gleichzeitig aber erleben wir immer mehr Entgrenzung von Arbeit. Für Lehrer wie Schüler hat die Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit allerdings nicht nur positive Seiten.

Dies bestätigen kürzlich zwei Abiturientinnen des Nordpfalz-Gymnasiums in Kirchheimbolanden der Rheinpfalz[1] in einem Interview: „Die Kommunikation mit den Lehrern ist digital über die Schul-App viel einfacher und flexibler als früher. Wir können auch abends mal etwas nachfragen oder spontan vor Kursarbeiten – und kriegen direkt Antworten. Ohne die App ginge das nicht, wir müssten bis zum nächsten Tag warten oder übers Wochenende – und dann ist’s vielleicht schon zu spät.“ Ihre Freundin dagegen gießt etwas Wasser in den Wein: „So eine App vereinfacht viele Absprachen. Man ist allerdings auch rund um die Uhr erreichbar. Und es verleitet, ständig am Handy zu sein …“. 

Zyklische und lineare Zeit

Mit Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs wollen wir bei einer Veranstaltung im November für Bedächtigkeit angesichts der „manischen Beschleunigung“ der Welt plädieren, für Bedächtigkeit ohne Fortschrittsfeindlichkeit und für ein bewusstes Leben im Hier und Jetzt. Fuchs unterscheidet zwischen zyklischer Zeit – mit natürlichen Rhythmen von Anspannung und Erholung – und linearer Zeit, die von ständigem Leistungsdruck und Selbstoptimierung geprägt ist. Er warnt vor den gesundheitlichen Folgen der permanenten Beschleunigung und empfiehlt, dem Leben wieder mehr Rhythmus zu geben, um psychisch gesund zu bleiben.

Herr Fusi – unbeschwert in seiner zyklischen Zeit

Eine perfekte Illustration dessen findet sich im Kinderbuchklassiker Momo von Michael Ende. Es ist die Geschichte eines kleinen Mädchens, das den Kampf gegen eine Bande von Zeitdieben aufnimmt. Genau genommen stehlen diese „Grauen Herren“ nicht die Zeit, sondern die Energie und Freude, die in der Zeit steckt – sie „vergiften“ diese Zeit.

Auch bei Herrn Fusi, dem Friseur, gelingt ihnen dies – obwohl er bis dahin recht zufrieden sein kleines, gemütliches Leben genießt: In der Arbeit ist er ganz im Flow[2], hat regelmäßig Zeit für soziale Kontakte (seine Mutter, Freunde, den Gesangsverein, Fräulein Daria) – und zwar ohne auf die Uhr zu schauen und in Gedanken schon ganz woanders zu sein, nimmt sich jeden Abend ein paar Minuten, um am Fenster zu sitzen und den Tag nachdenklich-dankbar Revue passieren zu lassen. Er gleitet in einem natürlichen Rhythmus dahin, ist immer ganz bei der Sache und eben gerade kein „Multitasker“.

Entrhythmisierung als Anfang vom Ende: Abgleiten in eine lineare Zeit

Mit einem Mal allerdings wird er aus dieser beschaulichen Routine herausgerissen: Ein kleiner Moment des Vergleichs beim Blick auf die Hochglanzfotos der Illustrierten – heute wären es wohl die sozialen Medien – wirft ihn aus der Bahn seiner „zyklischen Zeit“. Ihn packt das Gefühl, etwas zu verpassen im Leben: FOMO, die „fear of missing out“. Und genau in diesem Moment der Unzufriedenheit erscheint ihm einer der Grauen Herren und rechnet ihm vor, was ihm von seinem Leben bleibt.

Herr Fusi bekommt es mit der Angst zu tun, als er an die Unausweichlichkeit des eigenen Todes denkt – der Vergleich mit dem vermeintlich „echten Leben“ aus den Illustrierten mit den Hochglanzfotos hat ihn aus dem Takt gebracht. Er lebt fortan nicht mehr in der Gegenwart, sondern als Zeitsparer und Selbstoptimierer – in der Hoffnung, die erwirtschaftete Zeit in ferner Zukunft mit Zinsen zurückerstattet zu bekommen, um dann das „wahre“ Leben führen zu können.[3] In seiner panischen Reaktion ist er der Gegenentwurf zum Fischer in Heinrich Bölls Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral.

Rhythmisierung als Schlüssel

Vielleicht eine zentrale Botschaft dieses Buches: Es gibt diese Momente, in denen man an sich zweifelt, auch wenn das Leben noch so rund läuft. Gerade dann ist es wichtig, sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen, sondern in den eigenen Rhythmus zurückzufinden. In einer Zeit, in der VUCA-Apostel[4], PISA-Päpste und Didaktik-Götter unablässig den Ruf nach Veränderung erschallen und Pauschalkritik auf die Schulen einprasseln lassen, während sie gleichzeitig die massenhafte Herstellung von hochwertigem „Humankapital“ predigen und Menschen in die permanente Selbstoptimierung treiben wollen, brauchen wir vielleicht gerade das: Zuspruch, um gesund zu bleiben und Erfüllung, nicht Erschöpfung, in unserer Arbeit zu finden. Mit festen Rhythmen und eben ohne Dauerbereitschaftsmodus.

Cornelia Schwartz, Landesvorsitzende

 


[1] „Ich fühle eine Abhängigkeit“, in: Die Rheinpfalz vom 28.04.2025.

[2] Konzept von Mihaly Csikszentmihalyi

[3] vgl. Fuchs, T. 2018. „Chronopathologie der Überforderung: Zeitstrukturen und psychische Krankheit“, in: Das überforderte Subjekt: Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft, hg. von Thomas Fuchs et al. Berlin: Suhrkamp, S. 72 – 73: „Die reine monolineare Zeit verwandelt das Leben in eine mechanisch determinierte Bewegung, die unablässig auf den Tod zuläuft. Es ist diese Flucht der linearen Zeit, die das von latenter Todesangst getriebene moderne Individuum gleichsam schon im Nacken spürt und der es paradoxerweise gerade durch Beschleunigung zu entgehen versucht – also durch eine Flucht nach vorne.“

[4] VUCA = Akronym, das für Volatilität, Ungewissheit, Komplexität (complexity) und Ambiguität steht. VUCA-Apostel wollen Schule „disruptiv“ verändern, sie komplett umkrempeln und vorgeblich „zukunftsfähig“ machen (s. Auftaktveranstaltung zur „Schule der Zukunft“ im November 2021, https://vimeo.com/646014967, zuletzt abgerufen am 08.01.2025). Dazu entwerfen sie das Drohbild einer unberechenbaren Zukunft – und verkennen, dass die Zukunft genau das schon immer war, nämlich unberechenbar, und dass Menschen sich schon immer angepasst haben. Vielleicht auch, weil sie in der Schule eines gelernt haben: Denken.