Bildung versus digitale Bildung?

BLICK 293

Jochen Ring

Jochen Ring

Kein Selbstzweck

Es könnte so einfach sein: In der Ausgabe vom August dieses Jahres hatte unser Mitglied Dr. Burkhard Chwalek das wesentliche gesagt: Digitale Medien sind, wie der Name (lat. medium: Mittel) sagt, Instrumente, die, je nach Handhabung, den Prozess der Bildung befördern oder ihm schaden können. Ihre Verwendung stellt keinen Selbstzweck dar, sondern kann nur im Dienst von Erkenntnis- und Freiheitsgewinn einen Wert bedeuten. Auf dieser soliden Grundlage kann man einen konstruktiven Diskurs über Sinn und Unsinn des Einsatzes digitaler Medien im Unterricht führen, ohne in die Hysterie zu verfallen, die derzeit die öffentliche Debatte prägt und darin dem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf ähnelt. Eine abwägende Diskussion über das Thema findet jedoch nur bedingt statt.

Bild-Zeitung und Deutschlandradio

Dass der Bild-Zeitungs-Kolumnist Nico Lumma warnende Stimmen als „Irrläufer“ bezeichnet, die mit ihren „irren Thesen gegenüber der Digitalisierung der Schulen nichts weiter als die Zukunft unserer Kinder (riskieren)“, tangiert die meisten von uns wohl nur am Rande, denn bei Lumma verhält es sich wie bei Jörg Dräger von der Bertelsmann-Stiftung: Sowohl der Kolumnist als auch das Vorstandsmitglied des als Stiftung firmierenden Steuersparmodells wollen Gehör finden, Produkte verkaufen und Gewinne erzielen, was in einer sozialen Marktwirtschaft durchaus legitim ist. Dass bei den diesbezüglichen Versuchen die Grenzen des guten Geschmacks hin und wieder überschritten werden, ist bekannt, wird jedoch mittlerweile mit einem Achselzucken hingenommen.

Als abenteuerlich empfinde ich es nun, dass die plakativen Postulate aus der Bild-Zeitung Eingang in das öffentlich-rechtliche Deutschlandradio gefunden haben. Gerade weil es sich hier um einen Qualitätssender (dessen Angebote ich beim Überschreiten der Landesgrenze nach Rheinland-Pfalz im analogen Autoradio schmerzlich vermisse) handelt, scheint die Sorge berechtigt, dass auch ansonsten besonnene Zeitgenossen einem neuen Wahn erliegen, der sich im Anschluss an den Akademisierungswahn Bahn zu brechen beginnt: dem Digitalisierungswahn.

Digitalisierungsoffensive

Wie ist nun das Denken der (öffentlich-rechtlichen) Digitalisierungsapologeten, die Mitte Oktober, als Bundesbildungsministerin Johanna Wanka ihre Digitalisierungsoffensive verkündete, zum Sturm auf die letzten analogen Bastionen der vermeintlichen Rückständigkeit bliesen, beschaffen? Hier bietet ein Beitrag von Margarete Hucht im Deutschlandradio Kultur reichlich Anschauungsmaterial. Der letztgenannte Begriff kann in Bezug auf den Kommentar der Online-Redakteurin in zweierlei Hinsicht verstanden werden: Zum einen muss man feststellen, dass, wenn das Schauen vor dem Denken oder ohne es stattfindet, eine gedanklich geordnete Argumentation nur rudimentär erfolgt. Zum andern kann Anschauung mit Sicht auf die Welt, mit Weltanschauung oder Ideologie gleichgesetzt werden, was die Suche nach den entsprechenden Merkmalen in dem Text der Autorin nahelegt, der sich, wie alle ideologisch geprägten Texte, unter anderem durch

Feindbild-Denken,

irrationale Furcht,

übertriebene Euphorie und

Mangel an stringenter Begründung auszeichnet.

Feindbild-Denken

Für Hucht und viele andere, die sich ab Mitte Oktober über die Digitalisierungspläne des Bundes uneingeschränkt positiv äußerten, lässt sich der Feind exemplarisch an zwei Namen festmachen: Josef Kraus und Manfred Spitzer. Diese beiden Personen sind nun, so verstehe ich deren durchaus skeptische Einwürfe, keine radikalen Gegner jeglicher Bildung mit Hilfe digitaler Medien. Für sie impliziert diese Art von Bildung allerdings eine differenzierte Sicht auf Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der neu gewonnenen Handlungsmöglichkeiten und ruft daher keine grenzenlose Euphorie hervor. Da eine nuancierte Auseinandersetzung nicht zum journalistischen Ethos von Margarete Hucht zu gehören scheint, verlagert sie die Diskussion auf die persönliche Ebene und greift die beiden Herren wegen einer der Unabänderlichkeit unterliegenden Eigenschaft an – und zwar wegen ihres Alters!

So muss sich Josef Kraus den Vorwurf gefallen lassen, dass er „seit nunmehr 37 Jahren“ für den Lehrerverband wirkt, ebenso ist es für Hucht von argumentativer Bedeutung, dass „Kraus 1949 auf die Welt kam“. Aber auch Manfred Spitzer gehört nach Hucht zu den halsstarrigen angry old white men, die von der gesellschaftlichen Dynamik überrollt werden und sich in eine Verweigerungshaltung flüchten, denn „wie viele ältere Herrschaften begreift er nicht“, welche Segnungen Google für uns bereithält. Statt sachlicher Auseinandersetzung also platte Beleidigung!

Furcht und Euphorie

Irrationale Angst, so der nächste Punkt in der Kriterienliste für eine ideologische Haltung, scheint Hucht zu überkommen, wenn sie sich vorstellt, dass „ein Unterricht in Sozialkunde (…) Facebook als Plattform gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ausblendet“. Dieses Ausblenden von Facebook wäre laut der Journalistin „die wahre Bildungskatastrophe“. Auf der anderen Seite gerät sie in einen Rausch der Euphorie angesichts der Verheißungen, die Microsoft & Co. an die Digitalisierungswilligen aussendet. Ihre Begeisterung nährt sich dabei hauptsächlich von den Erfahrungen, die ihre Tochter in entsprechenden Zusammenhängen gemacht hat, und so schreibt sie über dieses subjektiv gefärbte Beispiel: „Mit den Apps konnte sie Punkte sammeln und Levels erreichen. Das spornte sie an. Und überhaupt erschien ihr die Nutzung von Papas teurem iPhone – wie ihrem Vater auch – äußerst attraktiv.“ Mit dem Eintritt in die Apple-Gefühlswelt wird nun eine Dimension erreicht, die sich der rationalen Debatte schlicht entzieht und an die ästhetisch fraglos ansprechenden Werbefilme erinnert, in denen man Jugendliche der Hollister-Generation mit Tablets oder an Smartboards agieren sieht, was deren in der globalisierten Welt unerlässliche Offenheit, Technikaffinität, Kommunikationsfähigkeit und Kreativität zum Ausdruck bringt.

Mangel an stringenter Begründung

Eine zielgerichtete Argumentation findet dagegen nicht statt; zu fragen wäre daher, ob ein solches Diskursverhalten nicht durch den unreflektierten und hypertrophen Gebrauch der Medien der digitalen Welt selbst zustande kommt. Könnte es nicht sein, dass Hucht in ihrem Beitrag für das Deutschlandradio deshalb alle Standards journalistischer Sorgfalt fahren lässt, weil sie verlernt hat, rational-linear zu argumentieren und stattdessen sprunghaft-assoziativ die Ergebnisse der „Nutzung von Papas teurem iPhone“ durch Copy-Paste zum Besten gibt, sich bei ihrer Invektive gegen Kraus und Spitzer am Rande des Cyber-Mobbings bewegt und sich durch Youtube-Werbefilmchen benebeln lässt?

Ja zur reflektierten digitalen Bildung

Damit man mich nicht falsch versteht, folgende Feststellungen zum Abschluss:

1. Wenn digitale Medien sinnvoll eingesetzt werden, erweisen sie sich durchaus als „Kulturzugangsmedien“ (Torsten Larbig auf der Fachtagung „Digitale Bildung“ des Deutschen Philologenverbandes am 04.11.2016 in Bonn).

2. Mir liegt es fern, Kraus und Spitzer mit ihren Meinungen und Interpretationen von Studien als sakrosankte Retter des Abendlandes zu charakterisieren. Gerade weil sie sich mit ihren Publikationen einem vernunftorientierten Meinungsstreit aussetzen, bieten sie jedoch die Möglichkeit zur (Gegen-) Argumentation, während sich die Gegenseite leider allzu oft dem Diskurs entzieht.

3. Die rheinland-pfälzischen gymnasialen Lehrkräfte wollen und werden die zweifellos vorhandenen Segnungen digitaler Medien weiterhin dann für ihren Unterricht fruchtbar werden lassen, wenn sie darin einen Bildungswert erkennen. Das impliziert durchaus, dass diese schon dann zum Einsatz kommen, wenn sie die Lernlust der Schülerinnen und Schüler steigern.

4. Was selbsternannte Digitalexperten und Bildungspolitiker in jüngster Zeit geäußert haben, verärgert viele Kollegen, weil sie wissen, dass die Probleme, die wir derzeit haben und angesichts klammer Kassen bzw. falscher Prioritätensetzung in der Politik bis auf weiteres haben werden, nicht dadurch gelöst werden, dass jede Schülerin bzw. jeder Schüler ein eigenes iPad erhält und alle Klassenräume mit einem interaktiven Whiteboard ausgestattet werden.

5. Die rheinland-pfälzischen gymnasialen Lehrkräfte haben nichts gegen einen sich über die Schulen im Zuge der Digitalisierungsoffensive des Bundes ergießenden Geldregen einzuwenden, wenn gleichzeitig auch folgende Forderungen Gehör finden und umgesetzt werden: eine unterrichtliche Vollversorgung, gut ausgebildetes Personal, Fortbildungen zum Erwerb digitaler Kompetenzen, verlässliche Hard- und Software an den Schulen.

6. Die rheinland-pfälzischen Gymnasiallehrerinnen und Gymnasiallehrer haben sich schon längst auf den Weg gemacht. Viele von ihnen sind vernetzt, tummeln sich auf Chat-Foren, die der Optimierung ihres Unterrichts dienen, entwickeln digitale Unterrichtsmodelle und geben diese weiter. Eine nicht unerhebliche Anzahl von ihnen hat die oben erwähnte Fachtagung zur „Digitalen Bildung“ , die einen facettenreichen Überblick über Chancen, Risiken und Einsatzmöglichkeiten bot, besucht und wertvolle Impulse für ihre Arbeit erhalten.

7. Wie auch immer man zur sogenannten digitalen Bildung steht, es sollten in der öffentlichen Debatte darüber gewisse Standards im Hinblick auf logische Konsistenz und Höflichkeit nicht unterschritten werden.