Chancengleichheit oder: „Der Edle muss die Begriffe richtig stellen“

Foto: Jochen Ring

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Ein von mir sehr geschätztes Lehrwerk für den Philosophieunterricht beginnt die Auseinandersetzung mit Problemen der Erkenntnistheorie und Logik, indem es auf ein Gespräch zwischen Konfuzius und seinem Schüler Zi-lu rekurriert. Dieser fragt seinen Meister, was er denn, wäre er für die Regierung seines Staates verantwortlich, als erstes tun würde. Die Antwort „Unbedingt die Namen richtig stellen“ überrascht den Schüler, doch der Weise klärt auf: „Der Edle ist vorsichtig und zurückhaltend, wenn es um Dinge geht, die er nicht kennt. Stimmen die Namen und Begriffe nicht, so ist die Sprache konfus. Ist die Sprache konfus, so entstehen Unordnung und Misserfolg. Gibt es Unordnung und Misserfolg, so geraten Anstand und gute Sitten in Verfall. (...) Darum muss der Edle die Begriffe und Namen korrekt benutzen und auch richtig danach handeln können.“

Was ist fair?

An diese Episode muss ich denken, sooft in (bildungs)politischen Debatten der Begriff der Chancengleichheit benutzt wird. Nun wird jeder halbwegs anständige Mensch es für wünschenswert halten, dass es in einer Gesellschaft fair zugeht und die Chancen, die den Aufwachsenden zuteil werden, nicht allein von der finanziellen Potenz der Eltern abhängen. Was lässt sich also gegen den Begriff der Chancengleichheit einwenden?

Gleiche Lebensbedingungen?

Sicherlich stellt es ein vornehmes Ziel dar, unter anderem durch geeignete bildungspolitische Maßnahmen eine gerechte Verteilung von Chancen herbeizuführen; es wäre jedoch ein aussichtsloses Unterfangen, eine Gleichheit der Chancen bewirken zu wollen. Geradezu absurd klingt daher die Formel „Gleiche Lebensbedingungen für alle“, die in einem Themenfeld der 9. Klasse im „Rahmenlehrplan Katholische Religion für die Sekundarstufe I“ Eingang gefunden hat. Wie sollen Chancengleichheit bzw. gleiche Lebensbedingungen möglich sein, fragt man sich,

- wenn ein Kind das Glück hat, sowohl einen italienischen Vater als auch eine vietnamesische Mutter zu haben und in Deutschland geboren zu sein, so dass es dreisprachig aufwächst? Auf welche Weise soll die Chancengleichheit derjenigen erzielt werden, die „nur“ deutsche Eltern haben?

- wenn Jugendliche das Pech haben, nicht in Garmisch-Partenkirchen zu leben, wo das Skivergnügen bzw. die alpinistische Ertüchtigung spätestens zwei Stunden nach Unterrichtsschluss beginnt, sondern – wie ich – im Unterwesterwald geboren zu sein, wo die Möglichkeiten, das skifahrerische Können oder die Beherrschung des Eiskletterns zu verbessern, stark eingeschränkt sind?

Chancengerechtigkeit

Viele weitere Beispiele sind denkbar, als Zwischenergebnis lässt sich festhalten, dass die Forderung nach Chancengleichheit in ihrer Allgemeinheit grober Unfug ist und diejenigen Bildungspolitiker, die sie im Munde führen, es an der eingangs erwähnten terminologischen Klarheit vermissen lassen, es aber andererseits durchaus einen normativen Begriff gibt, auf dessen Grundlage man einen Diskurs über Kompensationsversuche bezüglich der in der Sozialisation erlittenen Beeinträchtigungen und Defizite führen könnte, und zwar den der Chancengerechtigkeit.

Dabei könnte man es nun bewenden lassen, da ich jedoch sicherlich nicht der erste bin, der auf die Verwirrung bezüglich des Begriffs der Chancengleichheit aufmerksam macht, lohnt es, der Frage nachzugehen, warum jenem, obwohl doch der viel geeignetere Terminus der Chancengerechtigkeit existiert, ein Fortwirken in der politischen Debatte beschieden ist. Zum einen, so lässt sich feststellen, überdauern in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft gerade auch solche Wörter, die eine Art unerfüllbares Heilsversprechen mit sich führen, das heißt, wenn das Paradies als jenseitige Dimension ausgefallen ist, gewinnen utopische Ideen wie die eines unbegrenzt möglichen Nachteilsausgleichs, der im Begriff der Chancengleichheit aufscheint, Attraktivität. Zum anderen aber – dies ist die wahrhaft bedauerliche Seite dieser Angelegenheit – lassen sich mit explizitem oder nur im Verborgenen erfolgendem Bezug auf die Chancengleichheit solche Maßnahmen rechtfertigen, die keinen Nachteilsausgleich für viele, sondern eine Beschneidung der Chancen von einigen (vermeintlich Bessergestellten) zum Zweck einer Nivellierung aller auf ein allgemeines Mittelmaß bedeuten.

Mittelmaß

Nehmen wir als unverfängliches Beispiel die französische Bildungspolitik, so erkennen wir, dass, wenn es entweder unerreichbar oder zu kostenintensiv erscheint, dass eine Mehrheit von Schülern ein gutes Niveau an lateinischen, altgriechischen oder deutschen Sprachkenntnissen erwirbt, es (leider) konsequent ist, allen diese Möglichkeit zur Entwicklung überdurchschnittlich ausgeprägter Fähigkeiten zu verwehren. Ein Mehr an Chancengleichheit – wenn auch nicht an Gerechtigkeit – ist dann nämlich in der Tat verwirklicht! Abschließend bleibt zu hoffen, dass all dies nur abstrakte Überlegungen und Befürchtungen sind, die keinen Eingang in die deutsche Praxis finden. Würden sie handlungsleitend, bestünde die oberste pädagogisch-politische Maxime für die Schule nämlich darin, anstatt Potentiale und damit interindividuelle Unterschiede sich entfalten zu lassen, die vorhandenen Begabungen im Klassenzimmer zu einem arithmetischen Mittelwert zu komprimieren und Differenzierungen möglichst zu vermeiden. Dies kann kein vernünftiger Mensch wollen!

Zitat aus: Gerd Stein: Philosophieunterricht – Sekundarstufe II. Erkenntnistheorie – Logik. Begriffe definieren, Schlüsse ziehen, Gegensätze begreifen, Düsseldorf 2003, S. 11.