Das Lesen von Beipackzetteln wäre wichtig: Verordnete Stärkung der Selbstverantwortung an Schulen

BLICK 301

Foto: Cornelia Schwartz, Landesvorsitzende

Foto: Cornelia Schwartz, Landesvorsitzende

Koalitionsvertrag 2016: Der hehre Anspruch ...

„Selbständigkeit und Partizipation an Schulen stärken“, so liest es der interessierte Bürger im Koalitionsvertrag zwischen SPD, FDP und Grünen aus dem Jahr 2016. Rheinland-Pfalz, so heißt es in diesem Kapitel des Koalitionsvorhabens, habe ein „durchlässiges und leistungsfähiges Schulsystem“, das man „stärken und pädagogisch weiterentwickeln“ wolle. Dem mittlerweile überall als problematisch erkannten Akademisierungswahn scheint man begegnen zu wollen, indem man sich die „Gleichwertigkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung“ auf die Fahnen geschrieben hat. Alle sollen die Chance erhalten, ihre Talente zu entfalten – „individuelle Förderung“ heißt hier die Zauberformel, denn: „Keiner darf verloren gehen.“

Inhaltlich scheint man dabei aufatmen zu können: Wer könnte gegen die oben genannten Punkte etwas einwenden? Nur bei näherer Betrachtung beschleichen den kritischen Leser leise Zweifel, und es drängen sich Fragen auf: In welche Richtung will man das durchlässige und leistungsfähige gegliederte Schulsystem denn „pädagogisch“ weiterentwickeln? Geht es da etwa um das, was bei diversen rheinland-pfälzischen Schulversuchen seit 2005 im Kleingedruckten zu lesen war, um Experimente mit Lernstandsberichten statt Noten, um die Abschaffung des Sitzenbleibens und andere Weichspüler-Maßnahmen?

... und die Wirklichkeit

„Keiner darf verloren gehen.“ Wie aber sieht es tatsächlich aus? Laut einer aktuellen Studie der Caritas haben im Jahr 2015 bundesweit 47.435 Jugendliche nicht den Hauptschulabschluss (die Berufsreife) erlangt. Dabei gibt es enorme Unterschiede zwischen den Bundesländern: Berlin und Sachsen-Anhalt stellen mit 9,3 und 9,9 % den traurigen Rekord an Schulabgängern ohne Abschluss für das Jahr 2015 auf; den absoluten Spitzenwert bei den Erhebungen erreichte Mecklenburg-Vorpommern 2009 mit 15,8 %. In Rheinland-Pfalz schwanken die Prozentzahlen, sind seit 2012 aber wieder gestiegen (s. Tabelle).

Jahr200920112012201320142015
Schulabbrecherquote6,6 %5,6 %5,2 %5,3 %5,6 %6,4 %

 Übersicht der Quote der Schulabgänger ohne Abschluss in Rheinland-Pfalz in den Jahren 2009 bis 2015 (Zahlen: Caritas, 2017, www.caritas.de/fuerprofis/fachthemen/kinderundjugendliche/bildungschancen/zahl-der-schulabgaenger-ohne-abschluss-s)

Diese Zahlen sind erschreckend. Für das Zusammenleben in der Gesellschaft ist es wichtig, dass möglichst viele Jugendliche einen Schulabschluss erreichen; die Arbeitsplätze ohne Schulabschluss werden rarer und die Situation ohne Schulabschluss prekärer. Es stellt sich also die Frage, was schiefgelaufen ist und was anders laufen muss.

Auch in Rheinland-Pfalz klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Seit 2009 hat man versucht, mit der Abschaffung der Hauptschule den Weg weiterzugehen, der bereits mit der Abschaffung der Grundschulempfehlung beschritten wurde, hat das Sitzenbleiben in manchen Klassenstufen an manchen Schularten abgeschafft, hat die Zugangsbeschränkungen zu Universitäten immer weiter aufgeweicht (das Abitur ist nur eine von vielen Möglichkeiten, eine Studienberechtigung zu erwerben) und auch Vorstöße in Richtung einer Einebnung der Fachhochschul- und Universitätslandschaft gemacht. Mit diesen Mitteln wollte man seit 2009 mehr Schülerinnen und Schüler und Studierende zu Abschlüssen und zu höheren Abschlüssen führen. Dass dieses Instrumentarium allerdings nicht hilft, um das Ziel zu erreichen, genauso wenig wie Aspirin gegen Durchfall hilft, hätte man wissen können, wenn man den Beipackzettel mit den Nebenwirkungen gelesen oder den Arzt oder Apotheker gefragt hätte. Was also nun?

Was genau hinter einer selbständigeren, einer selbstverantwortlicheren, einer autonomeren oder einer demokratischeren Schule steckt, das bleibt ein wohlgehütetes Geheimnis, denn die Politik wagt sich damit nicht aus der Deckung. Schön soll es klingen und demokratisch soll es sein, und alle sollen sich wohlfühlen. So weit, so gut.

Pädagogisch-didaktische Kritikpunkte an der demokratischen Schule

Zunächst einmal hört es sich sehr gut an, wenn Selbstverantwortung und Demokratie an Schulen gestärkt werden soll. Beunruhigend nur, dass solche Konzepte in letzter Konsequenz immer mehr nach „demokratischen Schulen“ klingen, wie zum Beispiel die Sudbury-Schule Ammersee eine ist bzw. war.

Auf der Homepage der Schule hört sich alles wunderbar kindgerecht an, Demokratie wird nicht unterrichtet, sondern gelebt, jeder lernt das, was er lernen möchte, wann und wo er möchte. Verfechter des Modells argumentieren, das funktioniere, da Kinder von Natur aus neugierig seien. Bei einer Radiosendung des Deutschlandfunks zum Thema „demokratische Schule“ allerdings stieß der Journalist dann doch auf eine große Schwäche des Systems, als er fragte, was denn passiere, wenn nun ein Schüler in den ersten drei Jahren partout keine Lust habe auf Mathematik. Die Antwort des Gymnasiallehrers Leo Selinger, der nun nach der Schließung der demokratischen Sudbury-Schule Ammersee durch das bayerische Kultusministerium eine neue demokratische Schule gründen möchte: Niemand müsse sich gegen seinen Willen mit Mathematik beschäftigen, werde früher oder später aber merken, dass es doch hilfreich sei. Erfahrungsgemäß dauere es maximal drei Jahre, bis Schüler dann doch freiwillig Mathematik lernten. Als ich das Radio ausschaltete, begann ich zu überlegen, wie lange in Deutschland wohl noch Radios oder Computer produziert werden können oder ob man das irgendwann auslagern muss in Länder mit asiatischem Drill-System, weil hier keiner mehr wirklich Lust darauf hat.

In einer demokratischen Schule unterrichtet man nicht mehr, sondern arbeitet so, wie der Gründer der Sudbury Valley School in Massachusetts, Daniel Greenberg, es beschreibt: „Wir lassen unsere Kinder in Ruhe. Punkt. Kein Aber. Keine Ausnahmen. Wenn wir gefragt werden, helfen wir, falls wir können. Wir mischen uns nicht ein. In erster Linie kommen die Leute zum Lernen her. Und genau das tun sie – jeden Tag, den ganzen Tag.“

Es ist die vollständige Transformation des Lehrers zum Lernbegleiter, eine Transformation, die mittlerweile von den unterschiedlichsten Seiten grundlegend hinterfragt wird: von Philosophieprofessor Christoph Türcke, von Bildungsforscher Dr. Matthias Burchardt und dem Kolumnisten der ZEIT, Harald Martenstein, um nur einige wenige zu nennen. Sie wehren sich unter anderem dagegen, dass man eben nicht mehr weitergeben soll, worin man Experte ist. Christoph Türke ist ein Verfechter des Zeigens im Klassenverband, ein Verfechter der gemeinsamen Erfahrung und Entdeckung des Lernstoffes und wendet sich gegen den Abgesang auf den Lehrer in einer Art „Lehrerdämmerung“. Matthias Burchardt redet und schreibt an gegen die „Kaspar-Hauser-Pädagogik“ von Lernbegleitern und Harald Martenstein, ehemaliges Mitglied der Deutschen Kommunistischen Partei, bemerkt mit Blick auf die Diskussion in der deutschen Bildungspolitik und deren Leistungsfeindlichkeit sarkastisch: „Da kann man nur hoffen, dass sich auch in der Arbeitswelt durchsetzt, dass keiner sich anstrengen muss.“

Systemkritik ... und viele Fragen offen!

Die andere Seite der Medaille ist mindestens ebenso bedenklich: Schulen sollen mehr Handlungskompetenzen erhalten. Das heißt konkret, Schulen sollen sich ihr Team, ihre Lehrer, selbst zusammenstellen können.

Klingt gut, klingt nach funktionierender Schule. Es stellt sich aber die Frage: Wann genau funktioniert eine Schule? Funktioniert sie etwa dann gut, wenn die Schülerzahlen stimmen, wenn möglichst keine Kritik von Eltern- und Schülerseite kommt, wenn alle zufrieden sind mit ihren Noten – und mit welchen Noten ist man zufrieden? Müssen an einer erfolgreichen Schule etwa möglichst viele das Abitur erreichen?

Was genau bedeutet „mehr Handlungskompetenz“ für Schulen (bzw. Schulleitungen, Eltern und Schüler, denn normale Lehrkräfte sind damit möglicherweise gar nicht gemeint) für die Einstellung von Lehrkräften? Nach welchen Kriterien werden sie ausgesucht? An den jeweiligen Schulen vor Ort hat man jedenfalls mehr Einblick in Parteibuch oder Gewerkschaftszugehörigkeit der Beschäftigten als zum Beispiel bei der ADD. Die Anfälligkeit des bisherigen Systems für solche Kriterien ist sehr gering, da es nur wenige direkte Berührungspunkte mit den einzustellenden Lehrkräften gibt – wie wird das aber in Zukunft an den Schulen selbst sein?

Man sieht schnell: „Selbstverantwortung“ wirkt auf den ahnungslosen Betrachter wie ein Wundermittel. Wir aber wollen wissen: Was verbirgt sich hinter diesem Konzept konkret? Was steht im Beipackzettel an Inhaltsstoffen und Nebenwirkungen? Zu den häufigen Nebenwirkungen von Aspirin zählt übrigens gerade der Durchfall.