Die Heinrich-Böll-Stiftung lässt sich von einer gescheiterten Bildungsministerin beraten, beleidigt die Schulen der Gegenwart und biedert sich bei der Wirtschaft an – Hoffentlich beeinflusst sie nicht Rheinland-Pfalz

BLICK 354

Foto: Jochen Ring

Im Jahr 2017 geschah in unserem Nachbarbundesland das völlig Unerwartete: Der durch die ideologiegetriebene Bildungsministerin Sylvia Löhrmann und deren verfehlte Inklusionspolitik an den Schulen und in den Elternhäusern erzeugte Leidensdruck war so groß geworden, dass sich die Bürgerinnen und Bürger des Landes dazu entschlossen, die gesamte Landesregierung für das schulpolitische Versagen abzustrafen und gemäß dem Motto „Neue Besen kehren gut“ zu wählen. Die gescheiterte Bildungsministerin landete nun nicht im Aufsichtsrat von Gazprom oder der Stiftung Klima und Umweltschutz Mecklenburg-Vorpommern, sondern geht, so lesen wir im Autorenverzeichnis der hier zu besprechenden Dokumentation, „seit 2017 freiberufliche[n] Beratungstätigkeiten“ nach. „Freiberuflich“ heißt natürlich nicht, dass sich die Frühpensionärin plötzlich in der freien Wirtschaft um lukrative Hinzuverdienste bemühen müsste. Mit dem Namenszusatz „Ministerin a.D.“ dürften sich genügend standesgemäße Betätigungsmöglichkeiten bei Stiftungen, Think Tanks, Task Forces und anderen staatlich (teil-)finanzierten Organisationen erschließen lassen. Eine davon ist die Heinrich-Böll-Stiftung, die in der zweiten Jahreshälfte 2021 eine 32-seitige Schrift mit dem verheißungsreichen Titel „Neue Lernkultur für alle Schulen! Impulse für ein zukunftsfähiges Bildungswesen“ vorgelegt hat.
 

Für die rheinland-pfälzische Lehrkraft, die ihre knapp bemessene Zeit lieber mit pädagogisch wertvoller Literatur verbringen möchte, seien zentrale Aspekte der Verlautbarung hier vorgestellt – in der großen Hoffnung, dass sich die Protagonisten des rheinland-pfälzischen Heilsweges zur „Schule der Zukunft“ von diesem Werk, das auf die Kurzformel „Floskeln, Beleidigungen, Neoliberalismus“ gebracht werden kann, nicht inspirieren lassen.

 

1. Floskeln
 

Die Dokumentation der Heinrich-Böll-Stiftung enthält überwiegend Banalitäten, die sich in Duktus und Inhalt an entsprechenden Äußerungen schulferner, aber geschäftstüchtiger Innovationseuphoriker wie Andreas Schleicher (OECD) und Jörg Dräger (Bertelsmann) orientieren, jedoch bar jeglichen Erkenntniswerts sind. Dafür nur eine Kostprobe: „Ohne Selbstlernkompetenzen wird das digitale Zeitalter nicht zu bewältigen sein. Hierfür eine ‚Lernarchitektur‘ zu bauen, die denjenigen als Gerüst dient, die mehr Orientierung brauchen, aber anderen ermöglicht, ‚dem Lernen Flügel zu verleihen‘, ist die didaktische Herausforderung für die Lehrkräfte“ (S. 12). Dem gesunden Menschenverstand dürfte schon vor fünfzig Jahren klar gewesen sein, dass Lehrerinnen und Lehrer auf die unterschiedlichen Grade von Selbständigkeit von Schülerinnen und Schülern Rücksicht nehmen und diese Selbständigkeit auch fördern sollten; die Wiederholung eines solchen Allgemeinplatzes mit modern klingendem Vokabular macht die Lektüre des gesamten Aufsatzes zu einem zweifelhaften Vergnügen.
 

2. Beleidigungen
 

Ähnlich wie in einer von der dpa zitierten Äußerung aus rheinland-pfälzischem Ministerinnenmunde, wonach in der Schule der Zukunft doch endlich einmal auch „Kreativität, kritisches Denken, Zusammenarbeit oder Kommunikationsfähigkeit“ zur Entfaltung gebracht werden sollten (gab es hierzulande anscheinend also gar nicht), webt auch die Heinrich-Böll-Stiftung am Feindbild „Lehrer“, denn, so der vermeintliche Befund, „das Lernen in deutschen Schulen geht zu wenig von der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler aus und verbindet fachliches Lernen zu wenig mit interdisziplinären Fragestellungen“ (S. 7). Jeder von uns weiß, dass dem einerseits nicht so ist und dass andererseits gerade die Auseinandersetzung mit der Alltagswelt enthobenen abstrakten Gegenständen einen wichtigen Beitrag zum Kompetenzerwerb darstellen kann. Von völligem Realitätsverlust der Autoren zeugt ein Satz wie dieser: „Die Heterogenität der Lerngruppen wird zu selten als Chance für die individuelle und gemeinsame Bearbeitung von Themen genutzt“ (ebd.). Solche Phrasen, so oder ähnlich gerne in den Präambeln von Lehrplanhandreichungen und in Grußworten von Fortbildungsveranstaltungen benutzt, erfreuen Nicht-Pädagogen, professorale Pädagogen (ohne Schulerfahrung) und diejenigen, die die besseren Pädagogen geworden wären, wenn sie nicht aus wichtigen Gründen daran gehindert worden wären; für die Lehrerinnen und Lehrer in der Praxis enthalten sie jedoch den ärgerlichen Subtext: „Es liegt an euch, dass ihr die 32 pubertierenden Siebtklässler mit ihren sich doch so wundervoll ergänzenden Begabungen nicht zu kooperativem, kreativem Arbeiten motivieren könnt. Jetzt strengt euch doch endlich mal an.“
 

Eine Mischung aus Übelwollen und Realitätsferne angesichts des Arbeitspensums von Lehrkräften weiterführender Schulen enthält ein weiterer Satz, der sauer aufstößt: „In der Presse wurde von Beispielen berichtet, in denen Lehrer/innen ihren Schüler/innen das Unterrichtsmaterial zu Hause vorbeibrachten und sich im Treppenhaus nach ihrem Wohlergehen erkundigten: Das waren löbliche Einzelfälle!“ (S. 8). Eine so offensichtliche Absurdität bedarf keines Kommentars, sollte aber publik gemacht werden, damit deutlich wird, wie in Deutschlands staatlich finanzierten Elfenbeintürmen über Lehrerinnen und Lehrer gedacht wird.

 

3. Neoliberalismus
 

Es darf vermutet werden, dass all die verwendeten Phrasen und Floskeln davon ablenken sollen, dass die Heinrich-Böll-Stiftung eine Agenda verfolgt, die die bedenkenfreie Anschlussfähigkeit an den Neoliberalismus intendiert. Immerhin ist in den letzten Jahren recht deutlich geworden, dass sich in Zeiten der Digitalisierung der Bildungsbereich zu einem millionen-, wenn nicht – im internationalen Maßstab – sogar milliardenschweren Markt entwickelt hat. Diesem Sachverhalt entsprechend lautet eine zentrale Aussage in dem Heft: „Größere Schulen sind mittelständische Betriebe.“ (S. 8) Über eine solche entwaffnende Ehrlichkeit, die verdeutlicht, dass es der Stiftung um alles andere als um Bildung und Kinder geht, kann man sich nur wundern – aber so sind nun einmal die Zeiten. Aus dem gewählten Ansatz folgt denn auch mit strenger Konsequenz, dass sich Investitionen in das ‚Humankapital‘ der jüngeren Generationen ‚rechnen müssen‘ und der sich schwer in Zahlen fassen zu lassende Beziehungsaspekt von Unterricht und Bildung in den Hintergrund rückt. Gemäß dem ökonomischen Prinzip – Gewinne maximieren, Kosten minimieren – wären daher Personalkosten zu senken und jeglicher Aufwand für den angestrebten ‚Output‘ ins Private zu verlagern. Das liest sich dann, hier im Hinblick auf den Verzicht von Gebäudeerweiterungen, so: „Mehr Raum ist in der Regel gar nicht notwendig – er muss nur anders gestaltet sein. Denn: Müssen alle Schüler/innen immer persönlich anwesend sein? Die Krise hat gezeigt, dass punktuelles Distanzlernen gerade bei älteren Schüler/innen oft gut funktioniert.“ (S. 15) Wenn die Krise eines gezeigt hat, dann, so muss man doch erwidern, ist es genau das Gegenteil: Distanzlernen ist eine Notlösung. Die in der Pandemie geteilten Lerngruppen haben den Unterricht effektiver und, aufgrund der Möglichkeit, sich den Individuen viel intensiver zuwenden zu können, diese – um es im pädagogischen Neu-Sprech auszudrücken – ‚reslienter‘ gemacht sowie deren ‚Selbstwirksamkeitskompetenz‘ erhöht. Die Verkleinerung der Lerngruppen an weiterführenden Schulen wäre also das Gebot der Stunde!
 

Fazit:

Die Pseudo-Studie der Heinrich-Böll-Stiftung sendet freundliche Signale an die (Digital-)Wirtschaft, nicht jedoch an die Lehrerinnen und Lehrer weiterführender Schulen, deren Leistungen sie schmäht. Mit dem Dreschen realitätsferner Phrasen, die der wissenschaftlich verbrämten pädagogischen Mottenkiste entstammen, stützt sie die „Schule-der-Zukunft“-Apologeten in den Ministerien, die weniger denn je gewillt sind, kleinere Lerngruppen und niedrigere Stundendeputate für Lehrkräfte weiterführender Schulen durchzusetzen, was allerdings nötig wäre, um die bildungspolitischen und sozialen Probleme der Gegenwart und Zukunft zu lösen.

 

Zitat des Monats
 

Dario Gramm, Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz habe „in den halbierten Gruppen des Wechselunterrichts zum ersten Mal in seiner Schulzeit erfahren, was individuelle Förderung bedeute. Zwölf statt dreißig Schüler mit einem Lehrer im Klassenraum hätten eine völlig neue Lernatmosphäre geschaffen: ‚Es war ein größeres Miteinander, und es machte am Ende deutlich mehr Spaß, in die Schule zu gehen.‘“

Quelle: Nach dem Bildungsschock, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.07.2021, S. 11