Expertenprediger III: „Macht Geld, macht mehr Geld“

BLICK 330

Foto: Jochen Ring

Schon im Auftakt zu unserer Reihe über das pädagogische Expertenpredigertum (Blick ins Gymnasium Nr. 319, fortgesetzt in Nr. 322) wurde eine Person genannt, die im Zusammenhang von Lehrer-Schelte bei Talkshow-Auftritten, Ruf nach schnellstmöglicher Digitalisierung ohne Scheuklappen und blinder Reformwut eine unrühmliche Rolle spielt, der Bertelsmann-Lobbyist Jörg Dräger.

 

Marktstrategisch genial

 

Das Muster, das seinen Auftritten und Werbefeldzügen für eine umfassende Ausstattung der Schulen mit digitalen Bertelsmann-Produkten zugrundeliegt, ist marktstrategisch genial: Einerseits hantiert er mit den Begriffen, die uns aus dem Wortschatz von Wirtschaftsvertretern, neoliberalen Politikern und vermeintlich progressiven Bildungswissenschaftlern vertraut sind („intelligente Maschinen“, „Computational Thinking“, „Individualisierung des Unterrichts“), andererseits vermag er durchaus auch in das Gewand des seriösen und behutsamen Innovators schlüpfen, der die Bedenken gegen einen Digitalisierungsfanatismus auf den ersten Blick ernst zu nehmen scheint.

Beispielhaft nachvollziehen lässt sich die Strategie eines Changierens zwischen der Forderung nach rascher Überwindung des analogen Unterrichts und Berücksichtigung des gesunden Menschenverstandes in einem online publizierten Artikel der Heidenheimer Zeitung (hz.de, 30.11.2019). Beide Gruppen scheinen hier auf ihre Kosten zu kommen: diejenigen, denen es als bedenkenlosen Digital-first-Euphorikern nicht schnell genug gehen kann („Heute stehen wir vor der Herausforderung, dass Computational Thinking in der Breite der Bevölkerung verankert sein muss“), aber auch diejenigen, die auf dem Wert traditionellen Unterrichts insistieren („Es geht ja nicht allein [sic!] darum, alle Klassen mit Wlan und Tablets auszustatten. Da sagen viele Eltern zurecht, ihr Kind sitzt genug vorm Bildschirm.“).

Handelt es sich bei dem Konzern-Lobbyisten Dräger also um einen abwägenden, um den Ausgleich bemühten Reformer? Davon sollte trotz der scheinbar besänftigenden Worte oben nicht ausgegangen werden. Für die Einordnung des medienpädagogischen Ansatzes unseres prominenten Expertenpredigers seien drei weitere Sätze zitiert, die über den von Dräger den digitalen Hilfsmitteln unterstellten Nutzen Auskunft geben:

 

Zeit für das Wesentliche?

 

„Es geht darum, Lehrern Zeit für das Wesentliche zu geben, weil bestimmte, sich wiederholende Aufgaben auch von einem Computer erledigt werden können. Der Lehrer braucht nicht immer wieder den Satz des Pythagoras [zu] erklären, wenn ein Lernvideo das besser kann. Der Lehrer kann sich in der Zeit um die persönlichen und sozialen Probleme des Schülers kümmern.“

Dieses Zitat ist deshalb so erhellend für das Denken von Dräger und anderen Digitalisierungseuphorikern, weil – entgegen aller modernen Pädagogik und entgegen dem eigenen Anspruch! – unterstellt wird, dass Unterricht im Dienste der Wissensvermehrung nur ein auf möglichst effektiv durchzuführenden Routinen beruhender Frontalunterricht sein könne. (Nebenbei bemerkt: Ob der Schüler es tatsächlich möchte, dass sich der Lehrer um seine „persönlichen und sozialen Probleme“ kümmert, darüber dürften auch in der Schülerschaft selbst die Meinungen weit auseinandergehen.)

 

Individualisierter Frontalunterricht mit Videos

 

Befürchtungen, die Matthias Burchardt auf der Vertreterversammlung des Philologenverbandes 2017 beschrieben hat und von Christoph Türcke 2019 verstärkt wurden, scheinen sich also zu bestätigen: Die Digitalisierungseuphoriker (nicht damit gemeint sind natürlich die unzähligen Kolleginnen und Kollegen, die unter dem Primat der Didaktik sinnvolle Medienunterstützung in ihren Unterricht integrieren) streben tatsächlich eine ganz neue Art des Unterrichts an: Eine unbestimmte Anzahl von Individuen füllt in größtmöglicher Heterogenität einen mit digitalen Geräten ausgestatteten Raum; die Kinder bzw. Jugendlichen werden durch die Geräte frontal instruiert, schauen Videos, produzieren vielleicht sogar selbst welche und lösen Aufgaben; der Lehrer betreut die Individuen an ihrem Arbeitsplatz und kümmert sich um ihre wie auch immer gearteten Nöte; Interaktion zwischen Schülern bei der Erarbeitung von Inhalten findet, wenn überhaupt, nur am Rande statt.

 

Lerncoach statt Lehrer?

 

Es ist nur konsequent, dass in solchen Dystopien der Begriff des Lehrers durch den des Lerncoachs ersetzt wird. Diesem wird die Rolle des Motivators und Therapeuten zugewiesen, bestenfalls soll er noch gruppendynamische Prozesse zur Etablierung eines sozialverträglichen Miteinanders anleiten, ein Unterricht im herkömmlichen Sinne, in dem sich eine Klassengemeinschaft – um das Beispiel Drägers aufzugreifen – forschend-probierend und diskursiv miteinander ringend am Satz des Pythagoras versucht, ist dann jedoch nicht mehr vorgesehen.

 

Für Bertelsmann gut

 

Die unschöne neue digitale Welt, wie sie unseren Expertenpredigern vorschwebt, wird sich sehr positiv auf die Bilanzen nationaler und internationaler Konzerne wie Bertelsmann auswirken, ebenso auf die Attraktivität von Privatschulen, die, wie es im Silicon Valley geschieht, Bildung nicht nach dem digital vermittelbaren Output vermessen, sondern ihren Kunden einen überraschend konservativen Unterricht ohne Smartboards und Tablets bieten. Die unschöne neue digitale Welt wird aber andererseits viele Verlierer kennen: vor ihren digitalen Endgeräten sitzende, Tutorials rezipierende vereinzelte Individuen, denen der Staat keine fachlich adäquat ausgebildete Lehrkraft mehr zur Verfügung stellen konnte, nachdem die dafür notwendigen Finanzmittel schon von Bertelsmann, Apple und Microsoft in Anspruch genommen worden sind.

Völlig im Einklang mit dieser Analyse steht eine Entwicklung, über die die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 01.02.2020 in ihrer Online-Ausgabe (https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/klassenzimmer/schule-ohne-lehrer-eine-provinz-in-kanada-macht-ernst-16609474.html) berichtet: In den US-amerikanischen Bundesstaaten Alabama und Arkansas sowie in der kanadischen Provinz Ontario sollen – gegen den Willen der Mehrheit der Schüler – vermehrt E-Learning-Kurse angeboten werden, um Lehrerstellen einzusparen.