„Expertenprediger“: Wenn gute Argumente dem Irrationalismus nicht Einhalt gebieten können

BLICK 319

Foto: Jochen Ring

Vielleicht haben Sie sich als sowohl bildungspolitisch als auch wissenschaftssoziologisch Interessierter auch einmal die Frage gestellt, wie es zu erklären ist, dass sich pädagogische Irrtümer und Ideologien über Jahre und Jahrzehnte hinweg gegen alle empirische (oder bisweilen auch semantische) Evidenz am Leben erhalten. Beispiele dafür gibt es zuhauf:

 

  • „Sitzenbleiben abschaffen“: Von diversen Pädagogik-Professoren und ihren Anhängern wird in unschöner Regelmäßigkeit behauptet, dass die Nichtversetzung von Schülerinnen und Schülern nur Schaden anrichte, sich sogar volkswirtschaftlich quantifizieren lasse und sich auf einen milliardenschweren Euro-Betrag belaufe. Ihre Berechnungen basieren auf fragwürdigen Annahmen und Zahlengrundlagen, verschwiegen wird jedoch insbesondere der nicht zu unterschätzende (aber eben auch zahlenmäßig nicht zu erfassende) Sachverhalt, dass die Möglichkeit der Nichtversetzung ein heilsames Motivationspotential für pubertierende Jugendliche vor allem männlichen Geschlechts zu entfalten vermag. Demjenigen, der mit Kindern und Jugendlichen zu tun hat, leuchtet dieses Argument unmittelbar ein, wer sich die Welt am Schreibtisch konstruiert bzw. erträumt, verliert solche Realitäten leicht aus dem Blick.
     
  • Inklusion: Zu Genüge haben seriöse Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass der Wortlaut der UNO-Behindertenrechtskonvention nicht die Abschaffung der qualitativ hochwertigen und bei der Vermittlung von Basiskompetenzen äußerst effektiven Förderschulen gebiete. Dessen ungeachtet propagieren populistisch gefärbte Landesregierungen, gewisse Interessenverbände und selbsternannte Menschenrechtler zum Nachteil der Schwächsten der Gesellschaft eine Abschaffung dieser erfolgreichen Bildungseinrichtungen.
     
  • Heterogenität: Das Mantra, dass größtmögliche Heterogenität im Klassenzimmer sich zum Nutzen aller Schülerinnen und Schüler auswirke, ist inhaltlich längst widerlegt. Das bescheidene Maß an individueller Förderung, das die in solchen Lerngruppen unterrichtende Lehrkraft ihren Schützlingen angedeihen lassen kann, konzentriert sich gemäß empirischen Untersuchungen auf die Leistungsspitze und Lernschwache. Diejenigen, die in diesem Spektrum eher in der Mitte anzusiedeln sind, können, wie wir Unterrichtenden wissen, unter solchen Bedingungen ihr Potential nur begrenzt entfalten.
     
  • Digitalisierung: Dass Grundschulkinder vor übermäßigem Smartphone- und Computer-Konsum zu schützen sind, legen die Forschungsergebnisse von Kinder- und mittlerweile auch Augenärzten nahe. Dieser Umstand hält die Digitalisierungseuphoriker jedoch nicht von ihrer Forderung ab, auch schon jeden ABC-Schützen mit einem Tablet und jedes Grundschulklassenzimmer mit einem Smartboard auszustatten.

 

Wissenschaftsintellektuelle und Expertenprediger

 

Die Reihe der Beispiele ließe sich beliebig verlängern, mir geht es hier jedoch nicht um die Fortsetzung einer traurig stimmenden Auflistung, sondern den Versuch, wenigstens etwas Licht in das Dunkel eines opaken Mechanismus zu bringen, der dazu führt, dass auch noch die absurdesten Thesen in der bildungspolitischen Diskussion Gehör finden und in dem einen oder anderen Kultusministerium der Bundesländer zum Leidwesen der dort Unterrichtenden auf positive Resonanz stoßen. Einen erkenntnisförderlichen Ansatz zur Erklärung dieses erstaunlichen Phänomens bietet, so meine ich, ein ganzseitiger Aufsatz in der Rubrik „Forschung und Lehre“ der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 02.01.2019, der auf den ersten Blick überhaupt keinen Bezug zum Bildungssystem der Gesellschaft zu haben scheint, dessen Überlegungen zum Wirken des „Wissenschaftsintellektuellen“ respektive „Expertenpredigers“ in den USA und Frankreich sich jedoch ohne Weiteres auf den Bereich unserer beruflichen Tätigkeit als Lehrkräfte übertragen lassen.

 

Stars und ihre großen Ideen

 

Der Autor des Artikels, Caspar Hirschi, Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen, weist überzeugend nach, dass die (scheinbare) Erklärungskraft von Ideen und Neologismen sich nicht der Güte des jeweils vorgetragenen Gedankenganges verdankt, sondern der medialen Präsenz von „Intellektuellen“, deren Auftreten mit einem gewissen „Starkult“ verbunden ist bzw. die den Status einer „personifizierten Marke“ erlangt haben. Die „großen Ideen“ der sogenannten Expertenprediger müssen, so das bislang nicht explizit ausformulierte Handlungsrezept für den Erfolg in gesellschaftlichem Diskurs, Entertainment, Wirtschaft und Politik, „attraktiv verpackt und leicht verdaulich verabreicht werden“; die empirische Validität der vorgebrachten Theorien spielt dagegen eine untergeordnete Rolle, denn: „Fallen die Gläubigen in den höchsten Wirtschaftsetagen nicht von einem Expertenprediger ab, bleibt Kritik [an Ihren Thesen] ohne Konsequenzen.“ Caspar Hirschi konkretisiert seine soziologischen Ausführungen am Konzept der „disruptiven Innovation“, das von Clayton Christensen in den öffentlichen Diskurs eingebracht wurde – und  keinerlei empirische Bestätigung durch seriöse Forschung in den diversen Disziplinen erfahren hat. Allein dem Prominentenstatus des Erfinders dieses Neologismus und der Empfänglichkeit eines gewissen Publikums für wohlklingende Wortschöpfungen ist die Beliebtheit des (vermeintlichen) Paradigmas der Silicon-Valley-Ökonomie geschuldet.

 

Bildungspolitische Debatten

 

Beenden wir an dieser Stelle unseren Exkurs in die sehr erhellende Darstellung eines schweizerischen Historikers und wenden uns der Frage zu, welchen Ertrag seine Gedanken für einen kritischen Blick auf hiesige bildungspolitische Debatten, in denen „Expertenprediger“ eine gewisse Meinungsführerschaft zu erlangen drohen, haben könnten. Dass das Konzept der „disruptiven Innovation“* neben der internationalen Wirtschaft und dem US-amerikanischen Gesundheitswesen auch das Bildungssystem tangieren könnte, ist dabei noch meine geringste Sorge; viel wichtiger erscheint mir der prinzipielle Sachverhalt, dass Expertenprediger entgegen aller empirischen Plausibilität mit ihren in die Öffentlichkeit und die Kultusbehörden hinein lancierten Thesen verstärkt Oberwasser bei bildungspolitischen Diskursen zu gewinnen vermögen.

 

  • Exemplarisch möchte ich an drei Personen belegen, dass „Expertenprediger“ negativen pädagogischen Einfluss auf unser Tätigkeitsfeld Schule ausüben könnten.
     
  • Richard David Precht: Im Rahmen der soeben skizzierten Kategorie noch am wenigsten bedrohlich, aber immerhin erwähnenswert erscheint mir der Fernsehphilosoph Richard David Precht. Seine bildungspolitischen Phrasen und Launen haben ihren Ursprung in den wechselhaften Erfahrungen seiner schulpflichtigen Kinder, die nach Ansicht ihres Vaters nicht in der Weise in der von ihnen besuchten Bildungseinrichtung Kreativität erleben und entwickeln dürfen, wie er selbst dies erwartet. Ähnlich wie Precht sind die sich in Bildungsdingen immer häufiger zu Wort meldenden Fußballstars, ehemaligen Boxweltmeister oder Outdoor-Experten einzuordnen: Sie werden zwar mittlerweile zu dem größten jährlich stattfindenden Schulleiterkongress DSLK eingeladen, ihre widersprüchlichen, sich – zum Glück – in der Summe gegenseitig aufhebenden Botschaften bedienen aber eher das Bedürfnis nach Entertainment und Spiritualität in Zeiten der postmodernen Verunsicherung, als tatsächlich nachhaltige Wirkung über das Tagesgeschäft hinaus zu entfalten.
     
  • Jörg Dräger: Er ist Vorstandsmitglied der Bertelsmann-Stiftung und verfolgt eine Intention, die sich kurz mit dem Motto „Lieber weniger Lehrer, dafür mehr Computer und mehr Bertelsmann-Produkte in den Klassenzimmern“ wiedergeben lässt. Mit seinen unablässig vorgebrachten Warnungen, deutsche Schülerinnen und Schüler würden von Prozessen der Digitalisierung und Globalisierung abgehängt, befeuert er die Agenda neoliberaler Wirtschaftseliten und die Abstiegsängste von Mittelschichtseltern. Seine Einflussnahme bei Entscheidungen auf den unterschiedlichsten Ebenen der Bildungsadministration könnte dazu führen, dass finanzielle Ressourcen vorrangig in die Ausstattung von Schulen gelenkt werden, dass das Lehrpersonal weiter ausgedünnt wird und Klassen noch größer werden.
     
  • Andreas Schleicher: Der von der Wirtschaftsorganisation OECD beauftragte Lobbyist kümmert sich um die Durchführung der PISA-Studien in Deutschland. Setzte sich deren Ideologie vollständig durch, würde insbesondere das kritische Potential der Geisteswissenschaften weiter an den Rand gedrängt, unser (noch) humanistisches Bildungsverständnis auf das Ziel des Erwerbs von Kompetenzen für den halbwegs rationalen Konsum sowie die Produktion verengt und der Bildungskanon auf diejenigen Inhalte reduziert werden, die das mittlere bis gehobene Management in Behörden und freier Wirtschaft für globalisierungsrelevant erachtet.

 

Uns Lehrenden an Schulen und Hochschulen bleibt wenig anderes übrig, als im Unterricht die Voraussetzungen für eine kritische Reflexion der simplen Thesen der pädagogischen Expertenprediger zu schaffen, die Scharlatanerie ihrer kruden Anti-Bildungs-Ideologie zu entlarven und die Mechanismen, die im öffentlichen Diskurs zu einem Expertenprediger-Status führen, zu thematisieren. Nehmen wir guten Gewissens und voller Zuversicht, dass es dafür noch nicht zu spät ist, diese Herausforderung an!

 


*    Die bzw. der sozialkundlich Interessierte erkennt natürlich sofort, dass sich hinter dem schönen Wort „disruptive Innovation“ inhaltlich nichts anderes als eine Neuauflage des von Josef Schumpeter stammenden Begriffs der „Schöpferischen Zerstörung“ verbirgt.