Kinderschokolade mit der Extraportion Milch: Smartphones für Grundschüler!?

Foto: Cornelia Schwartz

Von der Uneigennützigkeit der Werbung und der Lobbyisten

 

Was kann man seinen Kindern Gutes tun? Die Werbung verkaufte Kinderschokolade mit einem Bild von strahlend weißen Kinderzähnen und dem Hinweis auf die gesunde „Extraportion Milch“. 1977 warb man mit dem Slogan „Gesunde Schokolade für Kinder“! Vier Jahre später dann die Krönung: „Bleibt schön fit, Kinder. Esst Obst. Trinkt Milch. Esst Kinderschokolade.“ Alternativ gibt es viele andere Werbeprodukte, die uns sportlicher, schöner, gesünder, glücklicher und leistungsfähiger machen. Nicht umsonst isst die Fußballnationalmannschaft zum Frühstück Nutella. Eines der neuesten Werbeversprechen: Wer Kindern etwas Gutes tun will, führt in der Grundschule endlich das Smartphone für alle ein.

 

Die letztgenannte „Empfehlung“ (tatsächlich eine Empfehlung!) haben wir gerade diesen Sommer gehört, und zwar von Achim Berg, seines Zeichens Präsident des Bundesverbandes Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e. V., kurz Bitkom. „Ab der Grundschule empfehle ich ein Handy für Kinder und würde die Einbindung der Geräte in den Unterricht befürworten“, so der Chef der einflussreichen Lobbyorganisation, die ca. 2.600 Unternehmen der Informations- und Telekommunikationsbranche vertritt und sich auf allen Politikebenen (EU, Bund, Länder, Kommunen) für optimale politische (auch bildungspolitische) und wirtschaftliche Rahmenbedingungen für die Branche einsetzt.

 

Wann Smartphone-Einsatz in der Schule sinnvoll sein kann

Um es gleich vorweg zu sagen: Ja, es gibt ihn, den sinnvollen Einsatz von Smartphones im Unterricht der älteren Jahrgänge. So lassen sich im Sportunterricht (zum Beispiel mit der Handykamera des jeweiligen Schülers bzw. der jeweiligen Schülerin, um Datenschutzbestimmungen nicht zu verletzen) Aufnahmen von Bewegungsabläufen aufzeichnen, damit man sie dann in Zeitlupe analysieren und optimieren kann. Es lassen sich (unter Beachtung der Datenschutzbestimmungen) ohne großen Aufwand Audio- oder Videoaufzeichnungen im Sprachunterricht anfertigen. Daneben lässt sich natürlich alles Mögliche recherchieren, Lernvideos können auf dem Smartphone genutzt werden ebenso wie zahlreiche Lern-Apps (in sehr unterschiedlicher Qualität und mit unterschiedlicher Sinnhaftigkeit).

 

Ein Einsatz des Smartphones zum Arbeiten ist also möglich, wenn auch Vieles davon vielleicht manchmal etwas bequemer mit dem Notebook oder PC (oder einfach herkömmlich ohne digitale Medien) zu erledigen ist. Das Erstellen von und Feilen an Texten, Graphiken (mit Tabellenkalkulationsprogrammen) oder Präsentationen lässt sich am Notebook oder PC gut bewerkstelligen. Eine für viele Firmen sehr wichtige Arbeitsschutzmaßnahme besteht in der Anschaffung größerer Bildschirme für die Mitarbeiter, damit deren Augen wenigstens soweit wie möglich geschont werden. Das Smartphone mit seinem kleinen Bildschirm sollte also nicht zum Dauerarbeitsgerät werden.

 

Die Bitkom-Argumente für den frühen Smartphoneeinsatz

Bitkom-Chef Berg bringt zwei Argumente, warum Grundschulkinder ein Smartphone haben sollten. Erstes Argument: Man komme ohnehin nicht um das Smartphone herum, denn ab der ersten Klasse kämen Kinder „auf dem Schulhof und im Freundeskreis“ sowieso damit in Berührung. „Verbote“, so Bergs pädagogische Prämisse, „bewirken nur, dass Kinder die Geräte heimlich nutzen und dann ohne Begleitung gefährdeter sind.“

 

Verblüffend. Woher bekommen Erstklässler Smartphones zur heimlichen Verwendung? Vorstellbar ist, dass Kinder, die selbst kein Smartphone besitzen, für ein paar Minuten eines auf dem Pausenhof geliehen bekommen. Dabei wäre die Zeitdauer überschaubar. Ansonsten aber ist es kein Kinderspiel, an ein Handy zu kommen: Allein für das Freischalten einer SIM-Karte sind mittlerweile alle möglichen Authentifizierungen notwendig. Ein Kind kommt ohne Erwachsene kaum an ein Handy. Der Defätismus (es nützt ja sowieso nichts, lassen wir es also zu) und die Panikmache des selbsterkorenen Pädagogik-Gurus Berg („der größte Fehler, den man als Eltern machen kann“) sind also unbegründet.

 

Berg hat aber noch ein zweites Argument für den Smartphonekauf für Grundschulkinder auf Lager. Schwungvoll-zeitgeistgemäß macht er sich das Teilhabe-Argument zu eigen. Er bezieht Stellung für „ein Recht auf ‚digitale Teilhabe‘“. Der Philanthrop und Befreiungskämpfer aus der Computerbranche hat damit allerdings nicht alle Psychologen und Pädagogen auf seiner Seite.

 

Einer, der sich landauf, landab in seinen Vorträgen für medienfreie Zonen auch für Erwachsene einsetzt und der unermüdlich und eindringlich vor einem zu frühen Smartphonegebrauch warnt, ist Dr. Alexander Jatzko, Erwachsenenpsychiater und Chefarzt am Westpfalzklinikum Kaiserslautern an der dortigen Klinik für Psychosomatik. Da ihm das Thema ein großes Anliegen ist, hat er zwei Vorträge zum Thema „Digitale Welt – analoges Gehirn“ auf seine Internetseite gestellt, einen für Eltern (und Lehrkräfte) und einen für Schülerinnen und Schüler (https://www.westpfalz-klinikum.de/psyso/aktuelles/).

 

Medienfreie Zeiten zum Abschalten: Das Bett als Ort des Schlafens …

 

Handys, so Jatzko, verlangen unsere pausenlose Aufmerksamkeit, unterbrechen uns bei unseren Aufgaben, stören in vielen Fällen den Schlaf und sorgen für weniger Schlaf insgesamt. Aus seiner Erfahrung mit Burnout-Patienten, die oft unter Schlafstörungen leiden, weiß Jatzko, wie wichtig es ist, das Bett wieder zu einem Ort des Schlafens zu machen. Menschen, die ins Burnout schlittern, können eines nicht mehr, nämlich abschalten. Ihr Gehirn läuft immer auf Hochtouren.

 

 

Smartphone: Nachts beim Schlafen immer mit dabei?
 

Angaben von 13- bis 19-Jährigen
 

  • 60 % schlafen mit dem Handy auf dem Nachttisch.
  • 23 % schlafen mit dem Handy unter dem Kopfkissen.
  • Nur 2 % haben das Handy nachts außerhalb des Schlafzimmers.
  • 28 % geben an, mindestens ein- bis zweimal pro Woche durch Nachrichten geweckt zu werden.
     

Von den Erwachsenen nehmen 38 % das Handy mit ins Bett,
 

darunter 70 % der unter 30-Jährigen.
 

(Zahlen aus dem Vortrag von Dr. Alexander Jatzko)

 

 

Dabei ist Schlaf dringend notwendig, denn in den Wachphasen bildet das Hirn viele Synapsen, von denen ein Großteil während des Schlafens wieder abgebaut werden. Das Gehirn mistet sozusagen aus und sorgt so für effiziente Vernetzungen. Das Handy ist mittlerweile bei vielen Menschen, insbesondere bei jüngeren, nachts häufig mit im Schlafzimmer. Die Begründung, man brauche es als Wecker, zieht bei Jatzko nicht. Er empfiehlt einen herkömmlichen Wecker, möglichst ohne Leuchtanzeige.

 

 

Konzentriertere Arbeitsphasen ohne Handy

Nicht nur das Schlafen, auch das Arbeiten geht ohne Handy oft besser. Amerikanische Wissenschaftler der University of Texas haben in einer Studie 2017 gezeigt, dass schon der Anblick sogar des ausgeschalteten Smartphones die Konzentration seines Besitzers beeinträchtigt (https://news.utexas.edu/2017/06/26/the-mere-presence-of-your-smartphone-reduces-brain-power/). Wer das Smartphone umgedreht und ausgeschaltet auf dem Tisch vor sich liegen habe, sei deutlich abgelenkter als derjenige, der es in einem anderen Raum liegen habe. Die Forscher sprechen von einem „brain drain“, das heißt, das Smartphone zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Wenn also das Smartphone in greifbarer Nähe ist (selbst dann noch, wenn es ausgeschaltet in der Tasche ist, dann allerdings etwas weniger stark), ist ein Teil des Gehirns im Unterbewusstsein permanent damit beschäftigt, dem Drang zu widerstehen, das Gerät in die Hand zu nehmen und es einzuschalten. Im Experiment schluckte das Unterdrücken des Impulses, das Gerät in die Hand zu nehmen, einen großen Teil der Energie und verringerte die Denkleistung der Probanden deutlich.

 

Wie Alexander Markowetz in seinem Buch „Digitaler Burnout“ plädiert Jatzko für smartphonefreie Zeiten beim Arbeiten. Man brauche eine gewisse Zeit, um sich in eine Aufgabe hineinzudenken. Wichtig sei es dabei, nicht aus der Aufgabe herausgerissen zu werden, sich ganz auf die eine Aufgabe konzentrieren zu können. Ein Erwachsener schaue im Schnitt am Tag alle 18 Minuten, ein Jugendlicher alle 14 Minuten aufs Handy, und schon sei die Konzentration unterbrochen.

 

Smartphonefreie „Verdauungsphasen“ in der Schule und nach dem Lernen

Aber auch nach Abschluss einer Aufgabe, etwa nach dem Lernen, seien Smartphone-Aktivitäten nicht unbedingt empfehlenswert, denn die Abspeicherung des Gelernten im Gedächtnis brauche Zeit, damit das Gelernte wieder abgerufen werden könne. Lenke man sich nach dem Lernen ab, konkurriere das Gelernte mit den Ablenkungen, und der jeweils stärkere Eindruck hinterlasse im Gedächtnis Spuren, der schwächere werde möglicherweise überschrieben.

 

Jatzko schildert einen Versuch, der dies verdeutlicht: Probanden wurden unterschiedliche Filme gezeigt, jeweils mit Werbespots davor. An die Werbung, die vor einem Liebesfilm gezeigt wurde, konnten sich die Probanden fast alle erinnern; die Erinnerung an die Werbung vor dem Actionfilm allerdings war ausgelöscht. Die starken Eindrücke aus den brutalen Filmszenen ließen alles unmittelbar vorher Gesehene verblassen.

 

Die Erkenntnis aus diesem Experiment lässt Schlussfolgerungen über nachhaltiges Lernverhalten zu. Nach dem Lernen, so rät man ja auch als Lehrkraft immer wieder, ist „Verdauungszeit“ angesagt, ein Spaziergang oder eine ruhigere Tätigkeit ohne aufregenden Medienkonsum. Aus diesem Grund fordert Jatzko ein Handyverbot in Schulen, gerade zwischen den Lernphasen, also auf dem Pausenhof, und zwar auf jeden Fall für Jugendliche bis 14 Jahre. In der gesamten Grundschulzeit bis einschließlich zur 4. Klasse sollten Kinder kein internetfähiges Smartphone besitzen, so der Psychiater. Auch wenn das in vielen Fällen bislang anders ist, gesund ist es nicht, und Aufklärung tut not. Hier sind wir als Lehrkräfte gefragt, ob im Einzelgespräch, in der Klasse oder auf Elternabenden.