Kommentar zu den Ergebnissen der am 05.12.2017 veröffentlichten IGLU-Studie 2016 (erweiterte Fassung)

BLICK 305

Nach den schwachen Ergebnissen im Lesen in der am 13.10.2017 veröffentlichten nationalen IQB-Studie 2016 (Rheinland-Pfalz wie 2011 13. der 16 Bundesländer) und der neuen  internationalen IGLU-Studie (Deutschland 26. Rang) fordern Politik und  Medien  - wie bei jeder Defizit-Feststellung im Bildungssystem -  wieder reflexartig mehr Geld und bessere Rahmenbedingungen für die Schulen.                                                                                                                                                                         

Wäre es nicht vielleicht zielführender und problemlösender, sich auch die qualitativ-inhaltlichen Fragen zu stellen, welche Aufgabenstellungen die bisherigen Lese-Studien aufweisen, ob diese auf Grund des Bildungsauftrags von Schule nachvollziehbar und gerechtfertigt erscheinen, wenn ja, warum Schüler aus welchen Gründen an den Lösungen scheiterten und welchen Anteil die Didaktik und Methodik des tagtäglich gehaltenen Unterrichts an den festgestellten Defiziten einnehmen könnte?

Die Berichte in den Medien über diese neue IGLU-Studie und die Interpretationen dazu können  helfen zu verdeutlichen, was die bisherigen Studien PISA-Lesen, IQB-Lesen und IGLU  unter Lesefähigkeit  wirklich meinen:                                                                                                                                                             

Der kompetente Leser nimmt nicht einfach „eins-zu-eins“ auf, was er da liest, sondern er reflektiert und bewertet es.

Er erkennt, dass die veröffentlichte Rangliste der Deutschen Presseagentur (dpa - 27622 “ausgewählte Länder”) zum wiederholten Male bewusst manipulativ sein könnte. Er begreift, dass man mit einem Ergebnis unterhalb des Durchschnitts aller OECD- und auch EU-Länder nicht insgesamt Platz 9 belegen kann. Er recherchiert im Internet, dass Deutschland in der Original-Statistik nicht 9., sondern nur 26. wurde, einen Platz vor Kasachstan. Er schlussfolgert, dass nicht vor allem Geld und der Sanierungs-Stau an den Schulen für das Endergebnis ausschlaggebend gewesen sein können, da  das finanzschwächste EU-Mitglied Bulgarien mit großem Punktevorsprung vor uns auf den 13. Rang gelangte.                                                                                                                                                         

Er vergleicht das Ergebnis mit den ebenfalls mäßigen Leistungen der 15-jährigen Schüler in den bisherigen PISA- und IQB-Studien Lesen. Er hinterfragt, warum 18.9 % schlechte Leser für das so schwache Gesamtergebnis in der jetzigen Studie verantwortlich sein sollen, wenn die übrigen 81.1 % wirklich alle gut lesen könnten, und liest dort, dass wir nur 11, 1 % leistungsstarke Leser haben.

Er entnimmt den Texten, dass unsere Lesefähigkeit   - im Gegensatz zu den Fortschritten in über 20 anderen Ländern - seit 2001 in etwa gleich geblieben ist. Er reflektiert, dass sich demnach bei uns trotz den bereits durch die PISA-Studien 2000/ 2003 aufgedeckten inhaltlichen Defizite die Art der Leseförderung sich nicht wesentlich verändert haben kann.                                                                                                                                                  

Er fragt nach Gründen, liest in empirischen Untersuchungen nach und erfährt in einem Arbeitspapier “Praxistransfer Schul- und Unterrichtsforschung – eine Problemskizze” des bundesweiten Netzwerks “Empirie gestützte Schulentwicklung (EMSE)” u. a.: “Ein Grund für die geringe Bedeutung neuerer wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in der Praxis wird in ihrem fehlenden praktischen Bezug gesehen, der allein schon an den abstrakten Ausdrucksformen abzulesen ist”.

Er vergewissert sich in Original-Texten: „Zum prototypischen Kern von Lesekompetenz gehören vor allem die Fähigkeiten der Bildung kohärenter mentaler Textrepräsentationen unter Einschluss von (Vor-)Wissen , die motivationalen und emotionalen Fähigkeiten zur Stützung dieses Prozesses, die Fähigkeit zu seiner Reflexion und die Fähigkeit zur Anschlusskommunikation.“ (Bettina Hurrelmann und Norbert Groeben, „Lesekompetenz -  Bedingungen, Dimensionen, Funktionen“, 2002): „Lesen als ganzheitlicher transaktionaler Prozess, in dem Literarität und Literalität aufeinander bezogen sind: emergierende Literalität und interpersonale Literalität in der frühen Kindheit, heuristische Literalität und autonome Literarität in der mittleren Kindheit, funktionale Literalität und diskursive Literarität im Jugendalter.“

Er nimmt die Forderungen von Stiftung Lesen, dem Buchhandel und den Bibliotheken wahr, dass Kinder mehr Bücher lesen sollen. Er informiert sich bei PISA, dass das reine Leseinteresse (einfach viel lesen) nur ca. 10 % der Basis von Lesekompetenz ausmacht, wohingegen kognitive Grundlagen (Sprachfähigkeit, Sachkenntnis und Hintergrundwissen, schlussfolgerndes Denken und Herstellen von Zusammenhängen) ca. 50 %  beinhalten.

Er sucht nach, ob dies die wissenschaftliche Literatur bestätigt, und liest bei Prof. Dr. Cornelia Rosebrock, Uni Frankfurt, „Wege zur Lesekompetenz“, 2007, folgende Feststellung: „Für die Textverstehens-Fähigkeit endet die Didaktik und Methodik mehr oder weniger mit dem Schriftspracherwerb im Erstleseunterricht […]  bis dann in späteren Jahren der Literaturunterricht einsetzt! […] Viele gute Ideen für die dazwischen liegenden Jahre zielen sämtlich auf die Steigerung der Lese-Motivation,  ausreichende Leseverstehens-Fähigkeit wird stillschweigend angenommen. […] Auch im Aufgabenspektrum der anderen Bereiche des Deutschunterrichts oder anderer Fächer ist ein gezieltes, auf verstehendes Lesen hin ausgerichtetes Lesetraining nicht verankert. Entsprechend fehlen den Lehrkräften neben dem Problembewusstsein auch die Diagnose-Instrumente. […] PISA hat dieses Defizit unterstrichen.“                                                                                                                      

Er macht sich im Vorlesungsverzeichnis einer Uni sachkundig über die Ausbildung im Pädagogik-Studium und vergleicht dabei die Anzahl an Seminaren mit Grundlagen zur  Förderung des Leseverstehens mit den übrigen, zum Teil dabei sehr speziellen Angeboten im Lesebereich wie u. a.  „Das Fiktive und das Imaginäre  - Perspektiven literarischer Anthropologie“, „Literar-ästhetische Rezeption im institutionellen Kontext“, „Literarisierung als Aneignung von Alterität“. Dabei fällt ihm eine  Aussage des ehemaligen Personalvorstands der Telekom, Thomas Sattelberger  („Die Welt“, 19.02.2015) ein: „Wir haben die Bologna-Reform technischer umgesetzt als die Reform der Postleitzahlen. Wir haben das Lernen in kleine Module parzelliert und dafür gesorgt, dass der Studierende wie in einer getakteten Fertigung eine Portion nach der anderen abarbeitet, nach der es jeweils eine Qualitätsprüfung gibt.“                                                                                                                                                             

Er denkt in dem Zusammenhang an die Mail eines Studenten: „Vor allem die Bologna-Reform, die ursprünglich die Prüfungsfülle reduzieren sollte, hat die Prüfungsdichte nur weiter aufgeblasen. Die Konsequenz: Notgedrungen eignen sich die Studierenden kein Handlungswissen, sondern Prüfungswissen an. Auch das Unvermögen einiger Fachwissenschaftler zur Interdisziplinarität und Verknüpfung ist ein zentrales Problem der Lehrerausbildung  - und das nicht nur im Fachbereich Bildungswissenschaften. Unglücklicherweise sind die Ursachen und Wirkungen bei der kränkelnden Lehrerausbildung multikausal. Mich umtreibt manchmal die Frage, wieso nicht mehr Wissenschaftler differenzierter und kritischer sind. Immer wieder führe ich mir die Analogie zum Märchen "Des Kaisers neue Kleider" vor Augen. Oftmals werden Begriffe, Definitionen, Modelle und Theorien von Wissenschaftlern und angehenden Lehrern wegen fehlender Anwendungs- und Praxisbezüge mit Assoziationen "bekleidet", ohne dass die eigentliche "Nacktheit", zum Beispiel Definitionsschwierigkeiten und Umsetzungsprobleme, erkannt wird. Umso wichtiger sind die "Kinder" an den Universitäten und Hochschulen, die auf die "Nacktheit" hinweisen und "Theorie" und "Praxis" nicht als Gegensätzliches verstehen!“ (Der gesamte Originaltext liegt vor.)

Er liest in den Kommentaren zur Studie, dass wir zu viele Kinder aus bildungsferneren Elternhäusern zurücklassen. Er überlegt, ob es dann Sinn macht, Kinder, die zu Hause wenig Lern-Hilfen erfahren, auch in der Schule im selbstbestimmten und selbstverantwortlichen Lernen (das mittlerweile zum zentralen Anliegen der Lehrer-Ausbildung geworden ist),  beim Reflektieren und Werten von Texten (Lesekompetenz-Kategorie C) sich selbst zu überlassen. 

Er erinnert sich dabei auch an den schriftlichen Kommentar einer Fachleiterin aus einem Studienseminar: „In der Lehrerausbildung und im Unterricht wird heute zu sehr durch „sensationelle Reizung“ und „Eintagsfliegen-Nachhaltigkeit“  dem Zeitgeist nachgeeifert, statt sich an Lern-Prinzipien zur nachhaltigen Bildung zu orientieren wie u. a.  Erfahrungs- und Lebensweltbezug, Sachgemäßheit, Ganzheitlichkeit, Vernetzung, Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung, exemplarische Bedeutung, Problem- und Werteorientierung, Multiperspektivität, Multikausalität, Kontroverse und Komplexität."                                 

Ihn interessieren die Kommentare von Bildungspolitikern. Er liest vergleichend heraus, dass wenigstens einige diesmal, wie schon bei den IQB-Studien im Oktober, sich nicht mehr nur auf die ausschließlich quantitativ-vordergründigen und gebetsmühlenartig bei jedem Bildungsproblem wiederholten Forderungen nach besseren Rahmenbedingungen und strukturellen Reformen beschränken: “Wir haben ein Qualitätsproblem in unseren Schulen. Künftig wird es darum gehen, wie die `Fachlichkeit´ der Lehrkräfte verbessert werden kann, also ihre Ausbildung in der Fachwissenschaft und der Didaktik!” (Präsidentin der Kultusministerkonferenz Susanne Eisenmann); “Sprach- und Leseförderungsprogramme müssten aufgelegt werden, aber nicht irgendwelche, sondern solche, die auch einer strengeren Evaluation standhalten. Überhaupt braucht es weniger Aktionismus und stärkere Konzentration auf das Wesentliche, einen fachlich qualitativ hochwertigen Unterricht.” (Bundes-Bildungsstaatssekretärin Cornelia Quennet-Thielen);  „[…] Deshalb gilt es jetzt zunächst, die Ergebnisse mit allen an Schule Beteiligten zu analysieren und gemeinsame Wege zu finden, um besser zu werden. […] - dabei wird es keine Denkverbote geben.“ (Ministerium für Bildung, Rheinland-Pfalz, Presseerklärung zur IQB-Studie, 24.10.2017).                                                                                  

Der Leser denkt quer und malt sich aus, wie die Fußballlehrer-Ausbildung und das Fußball-Training sich bei uns verändern würden, wenn Deutschland bei der nächsten Fußball-WM lediglich auf einen 26. Rang käme.                                                                                                                                                                                              

Warnhinweis: Im Gegensatz zum bloßen emotional genießendem Lesen kann  reflektierendes und wertendes Lesen verstärkt  zu mündigem Aufgeklärt-Sein führen und die ungeprüfte Übernahme von Beeinflussungs-Versuchen blockieren, unter anderem aus Kommerz, Event, Werbung, Mainstream-Vorgaben, Medieneinflüsterung, elektronischem Hirnersatz, wissenschaftlichen “Prüfsiegeln”, politischen Vereinfachungen! Es kann zu Fällen geistiger Autonomie kommen!