Offener Brief - Jochen Ring schreibt an Martin Spiewak, Redakteur der Wochenzeitung „Die Zeit“

BLICK 297

Foto: Jochen Ring

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Sehr geehrter Herr Spiewak,

durch Ihre bildungspolitischen Erörterungen und Kommentare in der „ZEIT“ habe ich in der Vergangenheit so manche wichtige Impulse erhalten, die mich immer wieder dazu veranlasst haben, die betreffende Angelegenheit weiterzuverfolgen und in der Fachliteratur zu vertiefen. Für diese Anstöße möchte ich Ihnen danken. Über die Maßen verblüfft haben Sie mich jedoch jüngst durch eine Formulierung, die unter www.zeit.de/2017/07/singapur-pisa-schulen-bildung-schulsystem in einem Ihrer sehr lesenswerten Aufsätze zu entdecken ist.

Ihr Artikel gefällt mir einerseits sehr gut, weil Sie am Beispiel Singapur eine Entwicklung beschreiben, die sich, wie ich meine, auch in Deutschland beobachten lässt: Je mehr traditionelle Selbstverständlichkeiten in Bildungsdingen und anderen Bereichen an Gültigkeit verlieren, desto wichtiger scheint es für Bildungspolitiker und ihre Zuarbeiter in der Bildungsadministration zu sein, wenigstens die Worthülse, die an das Verlorene bzw. mutwillig Aufgegebene erinnert, zu betonen. Zwei Beispiele aus meiner Perspektive: Je weniger empathisch und sensibel Prozesse im Erziehungswesen oder auch anderen Subsystemen der Gesellschaft gestaltet werden, desto mehr werden in den entsprechenden Dokumenten, angereichert mit in jeder Hinsicht korrekten Zitaten aus Managementbüchern und esoterischer Wohlfühl-Literatur, „Empathie“ und „Achtsamkeit“ aufs Schild gehoben. Zweitens: Hat man in den Zeiten, als es noch echte „Polyvalenz“ gab, jemals dieses Wort gehört? Nein; es erlangte erst Bedeutung, als die Absolventen der Lehramtsstudiengänge einen Bachelor oder Master in den Bildungswissenschaften erwarben, der sie wegen eklatanter Abstriche gegenüber den Inhalten der Fachstudiengänge außerhalb des Bildungsbereichs auf einen verschlossenen Arbeitsmarkt stoßen ließ. Getröstet durften sie sich durch den Hinweis fühlen, sie seien polyvalent ausgebildet.

In ähnlicher Weise wird nun ebenfalls in Singapur mit Begriffen und Floskeln jongliert; hier ist es, so legen Sie sehr schön anschaulich dar, Mode geworden, „das Ganzheitliche“ zu beschwören: „Und – ganzheitlich, ganzheitlich, ganzheitlich – warum reden ausgerechnet die Verantwortlichen in Singapur seit einiger Zeit bloß alle so, als wollten sie sich bei einer Waldorfschule bewerben?“ In all dem Drill, dem die dortigen Kinder und Jugendlichen ausgesetzt sind, kann gemäß der Erkenntnis der Verantwortlichen ein wenig „Ganzheitlichkeit“ nicht schaden, – sie ist im Gegenteil sogar nützlich, da, so die Hoffnung in Singapur, ein Schüler, der neben dem disziplinierten Lernen am Vor- und Nachmittag und täglicher Nachhilfe (bzw. besser Vor-Hilfe, da der Schulstoff privat oft im Vorhinein erarbeitet wird) am Abend irgendwann zwischendurch auch Theater gespielt und musiziert hat, ein kreativerer Ingenieur werden dürfte.

Wie gesagt, Ihr Artikel, sehr geehrter Herr Spiewak, stellt in bewundernswerter Klarheit die Verwendung von Worthülsen, die dazu dienen, einen Mangel zu übertünchen, bloß und hat für mich einen aufklärerischen Wert. Was mir andererseits nun gar nicht gefällt, das ist ein Satz, der Ihnen wohl unbedacht und ohne böse Absicht aus der Feder geflossen sein dürfte und der mich massiv ärgert. Sie schreiben: „Im Vergleich zu den Singapurern sind wir Europäer alle bestenfalls Realschüler.“ Aus diesem Satz, Herr Spiewak, lässt sich eine gehörige Portion Arroganz herauslesen. Mit Ihrer metaphorischen Rede, die den Unterlegenen in einem unterstellten Konkurrenz-Verhältnis als „bestenfalls Realschüler“ bezeichnet, beleidigen Sie – sicherlich ungewollt – eine ehrwürdige Institution, der es zu einem großen Teil mitzuverdanken ist, dass wir über hervorragende Fachkräfte in allen Bereichen der Wirtschaft, des Handwerks und des Handels verfügen und damit beträchtlichen Wohlstand in Deutschland erreicht haben. Sie beleidigen – auch hier ohne Absicht – ebenfalls junge Menschen, deren Begabungen oft in eine praktische Richtung weisen, die dafür Anerkennung verdienen und nicht durch Ihre Wortwahl exkludiert werden sollten. Diese jungen Menschen leeren zwar nicht wie andere ihrer Altersgenossen, die zu Hunderten ein Ethnologie- oder Journalistik-Studium absolviert haben, als schlechtbezahlte Praktikanten die Papierkörbe diverser Zeitungs-Redaktionen, aber diese Realschüler sind es, die Sie vielleicht demnächst als Feuerwehrleute mit der Rettungsschere aus einem Unfallauto befreien oder als Anlagemechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik dafür sorgen, dass Ihre Wohnung auch an Heiligabend bei minus 15° Celsius warm bleibt. Sie beleidigen schließlich die Realschullehrkräfte, die ein bravouröses Engagement an den Tag legen, um die ihnen Anvertrauten bestmöglich zu fördern, so dass diese später zum Wohl der Gesellschaft wirken und als Gut-Verdiener Steuern entrichten können.

Selbstverständlich wollten Sie, verehrter Herr Spiewak, mit Ihrer Formulierung niemandem wehtun.  Der oben zitierte Satz enthüllt jedoch eine Einstellung, die meines Erachtens dem Zusammenhalt in unserer Gesellschaft schadet und dringend verändert werden müsste, damit alle Begabungen, theoretische und praktische, in gleicher Weise Anerkennung finden. Wichtige Protagonisten unter Pädagogen, für die handwerkliche Fähigkeiten genauso viel wert sind wie abstrakt-analytische (oft genug schließt sich beides auch nicht aus) sind Professor Rainer Dollase, der sich als „Kämpfer gegen parasitäre Bildungseliten“ versteht, oder auch Prof. Julian Nida-Rümelin, der in seinen Vorträgen von einem „Akademisierungswahn“ spricht.

Als Gymnasiallehrer bin ich übrigens immer wieder fasziniert von dem hohen Niveau, das manche Abgänger der Realschule im Hinblick auf fachliche Kompetenzen, Arbeitshaltung und Begeisterungsfähigkeit mitbringen, wenn sie zu uns an die Schule, das Martinus-Gymnasium in Linz, wechseln. Einige von ihnen erwerben die Fachhochschulreife, andere legen das Abitur ab, viele immatrikulieren sich für ein duales oder ein FH-Studium, alle sind auf ihre Weise erfolgreich und setzen sich für ein diskriminierungsfreies Gemeinwesen ein. 

Mit freundlichen Grüßen

Jochen Ring