Über Kipp-Punkte

BLICK 352

Foto: Jochen Ring

Für Kollektive, aber auch Individuen scheint es Ereignisse und Entwicklungen zu geben, die eine gravierende Neuausrichtung im Handeln bewirken: In ökologischen Zusammenhängen wird in dieser Hinsicht neuerdings von Kipp-Punkten gesprochen. Die Aussicht auf die Weltklima-Katastrophe erfordere rechtzeitiges und radikales Umsteuern, um den drohenden ökologischen Kollaps am Kipp-Punkt eines globalen unheilvollen Prozesses zu verhindern.
 

Nach der Lektüre mehrerer Berichte über die durch eine chinesische Studie bestätige Korrelation zwischen Bildschirmarbeit und Zunahme der Kurzsichtigkeit bei Schulkindern (zum Beispiel im Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/121123/Coronapandemie-wirkt-sich-auf-Kurzsichtigkeit-im-Grundschulalter-aus [1] stellt sich mir die Frage, ob wir nicht auf einen gesundheits- und bildungspolitisch bedeutsamen Kipp-Punkt, der eine Kehrtwende nötig macht, zusteuern, oder ob es den Betroffenen so ergeht wie den sprichwörtlichen Fröschen, die sich aus dem zum Kochen gebrachten Wasser im Topf deshalb nicht befreien, weil die Siedetemperatur sehr langsam erreicht wird.
 

In Analogie dazu müsste die Steigerung der Quote der Schülerinnen und Schüler, die schon in jungen Jahren aufgrund des Gebrauchs digitaler Geräte wie Tablets und Smartphones an Kurzsichtigkeit leiden, nur langsam genug erfolgen, um die Verantwortlichen weiterhin in Untätigkeit verharren zu lassen. Hellsichtige Bildungspolitik dagegen müsste jetzt, wo die Wissenschaft (auf die man ja sonst hören soll, um nicht aus der Diskursgemeinschaft exkludiert zu werden) recht eindeutige Belege für den schon länger vermuteten [2] Zusammenhang zwischen der Verwendung digitaler Geräte und augengesundheitlicher Beeinträchtigung vorgelegt hat, aktiv werden, auf entsprechende Gefährdungen aufmerksam machen und bisherige Entwicklungen revidieren, anstatt weiter einer unreflektierten Digitalisierungseuphorie zuungunsten der Heranwachsenden das Wort zu reden.
 

Vor allem aber müsste sie eins tun: Die forcierte Verwendung von Tablets insbesondere an Grundschulen, wo sie keinem Kompetenzerwerb, sondern nur der leichteren Motivierung dient, unverzüglich beenden! Die Gesundheit von Kindern ist wichtiger als publikumsträchtige Pressemitteilungen über die Einrichtung von Tablet-Klassen in der Primarstufe! Die entsprechende Rückabwicklung würde kein Geld kosten, sondern einsparen!

 


[1] „Resultat: Der Anteil der Kurzsichtigen pro Jahrgang stieg bei den Sechsjährigen von 5,7 Prozent in 2019 auf 21,5 Prozent im Jahr 2020, bei den Achtjährigen erhöhte sich die Quote in diesem Intervall von 27,7 auf 37,2 Prozent.“ (Zugriff am 17.03.2022)
 

[2] https://www.pcwelt.de/a/studie-smartphones-machen-kurzsichtig,3446643, Zugriff am 17.03.2022