Warum Förderschulen unverzichtbar sind

BLICK 292

Heiko Schneider

Heiko Schneider

Unsere Pflegetochter Tamara (Name von der Redaktion geändert) ist nun 15 Jahre alt, von denen sie nur ihre ersten Lebensmonate nicht in unserer Obhut war. Sie leidet unter dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS), welches bei ihr von einem Spezialisten in Nordrhein-Westfalen vor vier Jahren diagnostiziert wurde. Diese pränatal erworbene und unheilbare Krankheit äußert sich bei Tamara symptomatisch vor allem in zum Teil extremen Unruhe- und Angstzuständen, Auto- und Fremdaggression, Distanzlosigkeit zu fremden Personen und insgesamt in einer starken Entwicklungsretardierung. Tamara hat eine schwere Merkfähigkeitsstörung, ihre kognitive Begabung liegt im diffusen Grenzbereich von Lernbehinderung zu geistiger Behinderung. Dass ihr leiblicher Vater aus einer sozusagen „Trinkerdynastie“ stammt und Drogen konsumiert hat, war uns bekannt, jedoch hatte die leibliche Mutter jahrelang aus Scham verschwiegen, dass auch sie während der Schwangerschaft immer wieder Alkohol getrunken hat. So ist uns in Unkenntnis der wahren Faktenlage eine lange Ärzte- und dann auch Schulodyssee leider nicht erspart geblieben. Tamara wuchs im Prinzip normal auf, aber bereits im Kindergarten zeigten sich einerseits motorische Defizite, andererseits fiel Tamara immer wieder in nicht altersadäquate Verhaltensweisen zurück, sodass wir ergotherapeutische Unterstützung in Anspruch nahmen. Ohne zu ahnen, welch schwere Grunderkrankung sich hinter all den Symptomen verbarg, haben wir Tamara an der Regelgrundschule angemeldet. Schon nach wenigen Schultagen wandte sich die aufmerksame Klassenlehrerin an uns, mit dem Kind stimme etwas nicht. Tamara war extrem unruhig, lief häufig in der Klasse herum, störte andere beim Arbeiten und hat vereinzelt auch Mitschüler geschlagen, da sie offensichtlich kognitiv bei weitem überfordert war, also schon die Erstanforderungen der Regelgrundschule nicht bewältigen konnte. Immer wieder hat sie sich im Klassenraum einen freien Tisch gesucht, unter welchen sie sich auf den Boden setzte und von wo sie von der Lehrerin nicht wegzubewegen war. Heute wissen wir, dass Tamara das gemacht hat, um für sich einen geschützten Raum zu finden. Nach einem kurzen Intermezzo an einer Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen, wo die Anforderungen immer noch viel zu hoch waren, wurde uns eine Schwerpunktgrundschule geradezu angepriesen, die sich erfolgreich um Kinder wie unsere Pflegetochter kümmern könne. Um es kurz zu machen: Die Lehrerin dort meinte, wir sollten unser Kind erst einmal richtig erziehen und Tamara beibringen, wie man sich gegenüber anderen verhalte, und ihr auch einmal den Hosenboden strammziehen. Wir haben unser Kind also auch dort nicht weiter beschulen lassen und schließlich an einer Förderschule für motorische und ganzheitliche Entwicklung angemeldet, wo sie im Wesentlichen das für sie notwendige schulische Umfeld antrifft: eine kleine Klasse von insgesamt nur zehn Kindern; drei feste Lehrkräfte, die im Regelfall mindestens zu zweit unterrichten, denn Tamara benötigt einen kleinen, konstant bleibenden Kreis von Bezugspersonen, um nicht emotional überfordert zu werden; ein klasseneigener Ruheraum, der etwa bei einem Wutanfall schnell aufgesucht werden kann, denn selbst der Umgang mit nur wenigen Mitschülern in ihrer Klasse ist für sie sehr stressintensiv. Bei zu starker Reizüberflutung und emotionaler „Überschwemmung“ reagiert Tamara in der Regel mit einem psychogenen Anfall, der sich in starken Kopfschmerzen, Wassereinlagerungen im Gesicht und Erbrechen äußert. Dazu kommen starke Lichtempfindlichkeit, sodass das Zimmer verdunkelt werden muss, ferner -  je nach Stärke des Anfalls -  Hand- und Fußtremor sowie Kreislaufprobleme. Oft ist sie nach einem solchen Anfall einige Tage kaum mobil und kann weder zur Schule kommen noch am Familienalltag teilnehmen. Anfangs hat Tamara auch an projektartigen Kooperationen mit der ortsansässigen Realschule plus bzw. dem Gymnasium teilgenommen, aber jedes Mal mit Anfällen reagiert, sodass wir auf Geheiß unseres betreuenden FAS-Arztes eine weitere Teilnahme untersagt haben. Aufgrund ihrer FAS-Erkrankung neigt Tamara dazu, sich im Umgang mit gesunden Kindern ihre Defizite nicht anmerken zu lassen und begibt sich in ihr persönliches „Hamsterrad“, um mithalten zu können. Schon die schiere Menge der Regelschüler im fremden Schulgebäude bedeuteten für Tamara Stress und Bedrängnis, Rückzugsmöglichkeiten standen nicht zur Verfügung. Solches steht natürlich nicht in der Lokalpresse, die ein Miteinander von Förder- und Regelschülern immer gleich überschwänglich als gelungene „Inklusion“ feiert. Ebenso wenig liest man dort, dass verantwortungsvolle Kolleginnen und Kollegen der Förderschule einige wenige Förderschüler bewusst auswählen, denen man überhaupt eine Begegnung mit „gesunden“ Regelschülern zutraut. Meine Frau und ich möchten, dass unsere Pflegetochter so gelassen wird, wie sie halt ist, dass sie ihren Begabungen gemäß auf ihrem im Vergleich zur Regelschule sehr niedrigen Niveau gefördert und nicht zum Opfer eines Umfelds wird, welchem sie an einer Regelschule ausgeliefert wäre. Denn nachdem die angesprochenen Kooperationsprojekte beendet waren und als Tamara Schülerinnen und Schülern der Regelschulen in der Stadt begegnete, wurde sie von diesen nicht einmal mehr beachtet, was Tamara verständnislos und traurig zurückgelassen hat. In Anbetracht des Krankheitsbildes von Tamara und der gemachten Erfahrungen mit verschiedensten Regelschulen komme ich zur für mich klaren Schlussfolgerung: Wer totale Inklusion propagiert, ist letztlich nicht vorrangig am Kindeswohl interessiert, sondern in der eigenen Ideologie gefangen.