Wéi wúwéi: Den Dingen ihren Lauf lassen - Was wir von asiatischen PISA-Siegern lernen können

BLICK 314

Cornelia Schwartz

Alle paar Monate beunruhigen die deutsche Öffentlichkeit Meldungen der Wirtschaftsorganisation OECD zum Thema Bildung. In die ritualisierte Lehrer- und Systemschelte stimmen viele Bildungsforscher, Journalisten und Parteipolitiker oft und gerne ein. So äußert sich der Journalist Christian Füller Anfang 2018 in seinem Artikel „Leschs Kuhle“ (bezeichnenderweise auf seiner Internetseite https://pisaversteher.com) und beschwört das Schreckgespenst eines „verkrusteten deutschen Schulsystem[s]“ herauf, „das den Kindern die Neugier austreibt“. Sein Resümee: Mit „Stillsitzen, Auswendiglernen und Dauerprüfen kommen wir nicht weit im 21. Jahrhundert. Schule muss die Kreativität der Kinder wecken.“

In Beiträgen wie diesen geht es ums Polarisieren, und notfalls wird ganz tief in die Mottenkiste des Bildungspopulismus gegriffen, frei nach dem Motto „Schule ist rückständig, und Lehrer sind faule Säcke“. Ob es die immer wieder auch selbstkritisch erwähnte Lust der Medien an schlechten Nachrichten ist, weil die sich einfach besser verkaufen lassen?

Auch die PISA-Tester brauchen regelmäßig die große Neuigkeit, um sich in den Schlagzeilen zu halten. Ihr Credo scheint es zu sein: Ahmt die Testsieger nach, und alles wird gut. Am Anfang war es Finnland, jetzt sind es Singapur und China, die Maßstäbe setzen. Bedeutet der Sieg der Asiaten nun wieder eine radikale Kehrtwende für Deutschland, eine neue Reformwelle?

Besinnungsloses Hinterherlaufen hinter finnischen Ganztags-Gesamtschulen

In der Folge des PISA-Sieges der finnischen Schulen im Jahr 2000 läuteten in deutschen Bundesländern die Alarmglocken – alles sollte anders werden, finnischer eben. Eine einzige PISA-Auslegung beherrschte die öffentliche Meinung: die finnischen Ganztags-Gesamtschulen als der Schlüssel zum Erfolg.

In der deutschen Bildungspolitik brach nach der Veröffentlichung der PISA-Studien ab dem Jahr 2000 eine Hysterie aus, die durch die Diskussion in sämtlichen Medien seither immer wieder angefacht wurde. Der Trend zu mehr Ganztag und mehr Gesamtschulen riss Deutschland mit sich. In Rheinland-Pfalz etwa wurde der Hauptschule ihr Scheitern bescheinigt, und 2008/2009 zog man mit einer sogenannten Schulstrukturreform den Schlussstrich: Die Hauptschule wurde abgeschafft, und in den folgenden zehn Jahren verdreifachte sich die Anzahl der Gesamtschulen nahezu.

Diejenigen allerdings, die an der vorherrschenden Interpretation der PISA-Ergebnisse zweifelten, fanden sich spätestens 2015 bestätigt, als der Schwede Gabriel Heller Sahlgren die Saga vom Erfolg der finnischen Gesamtschule ins Reich der Mythen verwies. Er argumentierte, der finnische Erfolg sei zu einem großen Teil den „alten Lehrern“ eines autoritären und hierarchischen Schulsystems geschuldet. Der Umbau des finnischen Schulsystems zu einem Ganztags-Gesamtschulsystem habe sich im Jahr 2000 noch gar nicht auswirken können. Als aber dann die Reformen aus den neunziger Jahren in Finnland gegriffen hätten, seien auch die schulischen Leistungen bei PISA deutlich gesunken.

Vorbild Asien: Lernen bis in die Nacht und größere Klassen?

Anfang 2017 dann die PISA-Meldung: Singapur ist Spitzenreiter, weitere asiatische Länder sind ebenfalls unerreicht. Im erfolgreichen Asien, so berichten deutsche Radiosender, brüste sich niemand damit, er sei nicht gut in Mathematik – im Gegenteil: Man lege dort Wert auf Bildung und investiere dafür viel Zeit und Geld. Im asiatischen Kulturkreis gilt Bildung als Privileg und als Schlüssel zu einem guten Leben. Mehr Unterricht, mehr Hausaufgaben, mehr Nachhilfe (privat bezahlt), Lernen bis in die Nacht und in den Ferien – wird das nun der neue Weg?

PISA-Direktor Andreas Schleicher hat ganz andere Bedingungen ausgemacht, die seiner Meinung nach zum Gelingen in asiatischen Schulen beitragen und die er am 6. Juni 2018 zum Beispiel im Interview mit Martin Spiewak von der ZEIT verkündet: „Der internationale Vergleich zeigt uns, dass erfolgreiche Systeme bessere Unterrichtsqualität und bessere Arbeitsbedingungen oft mit größeren Klassen finanzieren“. Dass in großen Klassen (in China reden wir über Klassenstärken von durchschnittlich 50 Kindern und Jugendlichen) zum Beispiel das Sprechen in den modernen Fremdsprachen, das Diskutieren in Sozialkunde, Geschichte und Erdkunde und manch anderes vielleicht etwas zu kurz kommen könnte, das scheint PISA nicht so wichtig zu sein.

Das sollten wir von China lernen: Ruhig einmal genauer hinschauen

Auf jeden Fall aber können wir viel von China lernen, nicht zuletzt eine Geisteshaltung, die sich auch im Umgang mit Bildungsstudien offenbart. Die chinesische Kultur ist nach wie vor tief geprägt von den „drei Lehren“, dem Konfuzianismus, dem Buddhismus und dem Daoismus. Eines der zentralen Konzepte des Daoismus ist das des Wéi wúwéi, was so viel bedeutet wie Handeln durch Nicht-Handeln oder Entwicklungen ihren Lauf lassen und sich nicht gegen sie stemmen. Gemäß der daoistischen Lehre ist es schwierig bis unmöglich, Reformen mit der Brechstange durchzuführen; Veränderungen muss man einfach geschehen lassen. Den Daoismus kennzeichnet das ruhige Beobachten, welches in krassem Kontrast zum überstürzten Aktionismus der westlichen Welt steht.

Interessanterweise beschreibt auch PISA-Chef Schleicher dieses ruhige Überlegen der Chinesen, die sich nicht zu hektischen Bildungsreformen haben hinreißen lassen. In China läuft man nicht einfach blind bildungspolitischen Trends hinterher, sondern, so analysiert er im oben erwähnten Interview mit der ZEIT, „bevor es eine Schulreform gibt, kann man sicher sein, dass sich die Bildungsverantwortlichen weltweit nach Modellen umgesehen haben, von denen sie sich etwas abschauen können“.

Das klingt sehr viel bedachter, als man das sonst von PISA-Meldungen kennt: Erst mal schauen, dann nachdenken – und nicht einfach sofort irgendwie handeln. Dazu rufen Wissenschaftler immer wieder auf, etwa der Philosoph Prof. Julian Nida-Rümelin oder Bildungsforscher Prof. Rainer Dollase. Es stellt sich dabei die Frage, ob das, worauf wir beim Thema Bildung Wert legen, in den PISA-Aufgaben tatsächlich „abgeprüft“ wird bzw. abgebildet werden kann.

Ohne ein sofortiges und hektisches Hinterherlaufen hinter guten PISA-Noten spart man jedenfalls eine Menge Zeit – es ist die Zeit, die wir brauchen, um guten Unterricht vorzubereiten, um im Unterricht intensiv auf die eigenen Schülerinnen und Schüler einzugehen, um im Anschluss zu reflektieren und den Unterricht immer weiter zu verbessern. Und wer weiß – vielleicht setzt sich das Konzept des Wéi wúwéi, ein Abschied von der Reformeritis, schon in ein paar Jahren dann auch in der deutschen Bildungspolitik durch. Wie gesagt: Von der chinesischen Kultur können wir viel lernen.