Zum Auschwitz-Gedenktag 2021: Den Blick schärfen, um rechtzeitig gegen Unrecht aufstehen zu können – nicht erst, „wenn sich die Schlinge schon um den eigenen Hals legt“

Im Jahr 1996 etablierte der damalige Bundespräsident Roman Herzog unter Zustimmung sämtlicher im Bundestag vertretenen Parteien den „Tag zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus“. Es ging ihm dabei darum, insbesondere die junge Generation zu erreichen. Dabei war ihm eines besonders wichtig: nicht den Jungen die Schuld aufzubürden, sondern sie zu ermutigen, Verantwortung zu übernehmen:

 

„Dieses Gedenken ist nicht als ein in die Zukunft wirkendes Schuldbekenntnis gemeint. Schuld ist immer höchstpersönlich, ebenso wie Vergebung. Sie vererbt sich nicht. Aber die künftige Verantwortung der Deutschen für das ‚Nie wieder!‘ ist besonders groß, weil sich früher viele Deutsche schuldig gemacht haben.“

 

Lehrerinnen und Lehrer spielen laut Herzog eine zentrale Rolle für die junge Generation, wenn sie diese große Verantwortung übernehmen soll. Denn um rechtzeitig aufstehen zu können gegen Unrecht, muss man es zunächst als solches erkennen:

 

„Und wiederum sage ich: Das Allerwichtigste ist es, den Jungen den Blick dafür zu schärfen, woran man Rassismus und Totalitarismus in den Anfängen erkennt. Denn im Kampf gegen diese Grundübel des 20. Jahrhunderts kommt es vor allem anderen auf rechtzeitige Gegenwehr an. Die Erfahrung der NS-Zeit verlangt von uns und allen künftigen Generationen, nicht erst aktiv zu werden, wenn sich die Schlinge schon um den eigenen Hals legt. Nicht abwarten, ob die Katastrophe vielleicht ausbleibt, sondern verhindern, daß sie überhaupt die Chance bekommt einzutreten.

 

Ich weiß, daß unsere Schulen in dieser Frage schon Beachtliches geleistet haben und leisten. Aber es lohnt sich, hier noch weiter nachzudenken. Die theoretische Darstellung von Totalitarismus und Rassismus reicht gewiß nicht aus, und wahrscheinlich reicht nicht einmal die Statistik des Grauens aus, das der Nationalsozialismus hinterlassen hat; denn die erfaßt ja schon kaum ein erwachsenes Gehirn. Aber vielleicht verstehen Jugendliche anderes in seiner Zeichenhaftigkeit ja besser als Erwachsene:

 

[…] die Trennung der Kinder von ihren Eltern, ihr Leben in den Lagern, ihre permanente Angst – und ihre Tapferkeit. […]“

 

Der Aufgabe, der jungen Generation den Blick zu schärfen für die Anfänge von Rassismus und Totalitarismus, stellen wir uns in unserer täglichen Arbeit an den Schulen.

 

(Die Zitate entstammen der Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog vom 19. Januar 1996, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1996/01/19960119_Rede.html.)