Folgen gesellschaftlicher Erschütterungen durch die Covid-Pandemie Weg mit den Noten? Ein Plädoyer für Leistung!

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Foto: Cornelia Schwartz

Große Ereignisse werfen lange Schatten: Der Stress bricht sich Bahn

 

Großereignisse wie Naturkatastrophen können nachhaltige Erschütterungen auslösen. Man denke an die Eruption der Laki-Krater 1783/84 und weltweite Missernten und Hungersnöte noch Jahre später, die in Verbindung mit der Französischen Revolution 1789 gebracht werden. Auch die Corona-Pandemie türmt sich zu einem solchen Großereignis auf. Die Verwerfungen sind vielfältig: wirtschaftliche Folgen, politische Konsequenzen, eine stärkere Radikalisierung, ja selbst bis in die Schulen hinein sind die Eruptionen der Pandemie spürbar.

 

Auslöser der Eruptionen waren etwa Stress im „Homeschooling“, Stress durch fehlende soziale Kontakte, Notenstress nach den Schulöffnungen. Zwar wurde im Anschluss an den Fernunterricht die Parole ausgegeben, man möge nun erst einmal keinen Leistungsdruck ausüben, gleichzeitig prasselten allerdings doch mancherorts geballt Unterrichtsinhalte und Leistungsnachweise auf Klassen und Kurse ein. Die Sehnsucht nach weniger Druck suchte sich ihre Bahn. Und so wurde der Ruf nach einer „Schule der Zukunft“ immer lauter – ohne Leistungsdruck, ohne Notenstress und, paradoxerweise, obwohl man sie im Fernunterricht ja vermisst hatte, ohne Lehrer.

 

Diskussionsrunde in Südafrika: Abschaffung der Noten zum Wohle der Menschheit?

 

„Wie soll Leistungsbewertung im Jahr 2030 aussehen?“, so fragte auch die Deutsche Internationale Schule Johannesburg in Südafrika und veranstaltete dazu im Januar 2022 eine digitale Podiumsdiskussion (s. QR-Code bzw. Link). Als Podiumsgäste geladen waren Prof. Dr. Hans Anand Pant, Erziehungswissenschaftler der Humboldt-Universität Berlin, Thorsten Altenburg-Hack, der Leiter des Amtes für Bildung Hamburg, Martin Plant, Schulleiter der Jenaplan-Schule in Rostock, und ich als Vertreterin des Philologenverbandes.
 

https://www.youtube.com/watch?v=RL6jftJESIY
 

Dabei sollte der Philologenverband die „andere“ Meinung liefern; die Mitdiskutanten schienen einhellig für eine Abschaffung der Noten zu sein (zumindest für die allermeisten Jahrgangsstufen). Die Argumente, die hier ins Feld geführt werden, sind immer die gleichen: Noten belasten Schüler; Noten sind unfair; eine Ziffer wird dem Menschen nicht gerecht; Leistung darf nicht über den Wert eines Menschen entscheiden. Also: Abschaffung der Noten zum Wohle der Menschheit?

 

Alternativen zu Noten

 

Als Alternativen zu Noten werden Verbalbeurteilungen und Gespräche gehandelt, Portfolios oder kompetenzbasierte Zeugnisse. Bei Letzteren wird man in Kompetenzrastern durchleuchtet. Zu jeder im Zeugnis ausgewiesenen Kompetenz gibt es eine verbale Rückmeldung. Dies ähnelt dem, was heutzutage zum Beispiel im Englischunterricht an der Tagesordnung ist, wenn sich die Lernenden selbst einschätzen sollen: „Kreuze die zutreffenden Aussagen an: Ich kann schon … jemanden auf Englisch begrüßen, nach dem Weg fragen, über das Wetter reden …“. Darüber hinaus werden Portfolios geführt, in die alles abgeheftet wird, was man kreativ und mit Forschergeist erstellt hat – an sich eine gute Sache; die Frage ist nur, ob Noten dadurch ersetzt werden sollten.

 

Wirklich weniger Leistungsdruck?

 

Man stelle sich vor, Schulnoten würden sämtlich abgeschafft. Ein Paradies? Nein! Am Ende der Schulzeit müsste trotzdem eine Auswahl stattfinden: Wer wird zu welchem Studium zugelassen, wer ergattert welchen Job in welcher Firma? In einer Universitätseingangsprüfung oder einem „Assessment Center“ einer Firma müssten Schülerinnen und Schüler dann beweisen, wie stressresistent sie sind, wie gut sie sich unter extremem Leistungsdruck präsentieren können. Und zwar gerade dann, wenn sie wissen, dass einzig und allein dies die alles entscheidende Prüfung ist, die über den weiteren Lebensweg und Zukunftschancen entscheidet. Wie anfällig ein solches Auswahlverfahren ist, wenn dann auch noch Beziehungen oder Parteibücher mit im Spiel sind, ist offensichtlich.

 

Schulnoten sind besser als ihr Ruf

 

Dann doch lieber Schulnoten, oder? Noten über einen längeren Zeitraum hinweg, von einer ganzen Reihe unterschiedlicher Lehrerinnen und Lehrer in unterschiedlichen Kontexten und Fächern erteilt, eine Mischung aus epochalen und punktuellen Leistungsmessungen. Sie tauchen im Abiturzeugnis auf, das bei Bewerbungen zusätzlich oder ausschließlich zurate gezogen werden kann. Ungerechtigkeiten, die bei allen Bewertungen nie ganz zu vermeiden sind, gleichen sich hier wohl am ehesten gegenseitig aus.

 

Auch die generelle Aussetzung von Noten in bestimmten Klassenstufen scheint nicht zielführend. Zu deutlich hat es das Experiment im rheinland-pfälzischen Referendariat gezeigt: Gerade Leistungsstärkere zweifeln in Situationen ohne eine Rückmeldung in Notenform sehr oft an sich, während Leistungsschwächere sich häufig viel zu wenig hinterfragen und so in ihrem Leistungstief gefangen bleiben. Will man in Schule und Referendariat Mündigkeit fördern, darf es kein Herrschaftswissen auf Seiten der Beurteilenden geben – es muss Transparenz über den Leistungsstand herrschen, auch und gerade in Notenform, denn Noten entscheiden letztlich über die weitere Karriere: darüber, ob man eingestellt wird, darüber, ob man ein bestimmtes Studium beginnen kann, etc.

 

Die geschichtliche Entwicklung der Notengebung

 

Der Anfang der schulischen Notengebung liegt schon eine Weile zurück. Ein Exkurs mit dem Wissenschaftsmagazin Quarks in die ca. dreieinhalbminütige „Geschichte der Schulnoten“ ist aufschlussreich (https://www.youtube.com/watch?v=9FLOXylnaWI): Ihren Anfang nahmen Zeugnisse Ende des 16. Jahrhunderts, als Schule, in Gestalt der Lateinschule, noch ein Privileg der oberen Schichten war.

 

„Nicht mehr Abstammung, sondern Leistung entschied über den Aufstieg.“

 

Der Jesuitenorden verwendete Ziffern zur Rückmeldung über die Leistungen, führte nach Jahrgängen sortierte Klassen ein, in denen es bei der Versetzung in eine höhere Klasse auf die Leistung ankam. Andere folgten dem Beispiel des Ordens. Auch wenn an den Universitäten der Adel noch lange Zeit privilegiert blieb, nahm die Zahl der Studierenden aus anderen Bevölkerungsschichten spürbar zu. Weitere gesellschaftliche Veränderungen im Zuge des Aufstiegs des Bürgertums, der Aufklärung, der Revolutionen und der Industrialisierung verstärkten und beschleunigten diese Entwicklung.

 

Im Jahr 1788 führte Preußen das Reifezeugnis ein: Gute Noten im Abitur waren nun der Schlüssel zu den Hochschulen. Wie Quarks es formuliert: „Nicht mehr Abstammung, sondern Leistung entschied über den Aufstieg.“ Seit 1919 wurden auch in der Grundschule Zensuren vergeben und öffneten manch einem die Tür ins Gymnasium. Damit wurden Noten und Leistung endgültig zur „Eintrittskarte für den gesellschaftlichen Aufstieg“.

 

Leistung als Grundgedanke der Demokratie

 

Leistung wird in Teilen unserer Gesellschaft zunehmend kritisch gesehen. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass es ungesund ist, wenn sich ein Mensch ausschließlich über seine Leistung definiert. Der ökonomische Begriff des Humankapitals hat wohl wesentlich zur Dämonisierung des Leistungsbegriffs beigetragen: Er zieht eine Verbindung zwischen vordergründiger wirtschaftlicher Leistung und dem Wert eines Menschen für die Gesellschaft.

 

Dagegen ist auf dem Hintergrund der Entwicklung der Konzepte von Menschenwürde und Menschenrechten festzuhalten, dass jeder Mensch wertvoll ist, unabhängig von seiner Leistung. Diese Auffassung haben wir uns als Gesellschaft aus gutem Grund zu eigen gemacht. Gleichzeitig ist die damit verbundene Verteufelung von Leistung eine höchst beunruhigende Entwicklung gerade für Demokratien. Leistung ist wichtig, sie ist immer auch Leistung für die Gesellschaft und sichert deren Fortbestand. Nur dadurch kann sich eine demokratische Gesellschaft in der Welt behaupten.

 

Wir sollten am Leistungsprinzip in unserer Gesellschaft unbedingt festhalten. Wir sollten darauf stolz sein, dass mit dem Notensystem der Zugang zu einer beruflichen Laufbahn nicht mehr durch Abstammung, durch Beziehungen, durch Parteibuch oder durch Gesinnung gesteuert wird, sondern durch Leistung. Auch wenn es neben ökonomischen Faktoren vieles andere gibt, was Menschen für eine Gesellschaft und für ihre Umgebung wertvoll macht, so ist und bleibt Leistung für eine Demokratie von zentraler Bedeutung.