„Ich verdanke dem Gymnasium fast alles.“ Harald Martenstein begeistert die Zuhörer auf dem Gymnasialtag 2016 in Stuttgart

Unter dem Titel „Die besten Flirt-Tipps für Jungs und Mädchen. Das Gymnasium und die Bildungsreformer“ hielt der für die ZEIT und den Tagesspiegel schreibende Kolumnist Harald Martenstein den Hauptvortrag auf dem diesjährigen Gymnasialtag, der am 04.03.2016 in Stuttgart stattfand. Mehrere hundert Kolleginnen und Kollegen, die der Einladung des Deutschen Philologenverbandes in das „Haus der Wirtschaft“ gefolgt waren, unterbrachen die Rede immer wieder mit tosendem Applaus, denn es gelang dem prominenten Referenten, einerseits die enorme Bedeutung von Bildung in den Fokus zu rücken und andererseits die Absurdität deutscher Bildungsreformen bloßzustellen.

„Wir dürfen bald den ersten vierzehnjährigen Gehirnchirurgen begrüßen“, mit diesen Worten kommentierte Martenstein den Beschleunigungswahn, dem die deutsche Bildungspolitik unterliegt und der mit Entfachlichung und Bestnoteninflation einhergeht. Infolgedessen ergieße sich eine wahre „Flut von Universalgenies“ über Deutschland, so die ironische Zuspitzung. Bezug nehmend auf die Untersuchungsergebnisse von Prof. Hans Peter Klein, der nachgewiesen hat, dass es in manchen Bundesländern zum Bestehen der schriftlichen Abiturprüfung ausreicht, die in den Aufgaben und Arbeitsmaterialien enthaltenen Informationen zu reproduzieren, machte der Essayist den Vorschlag, die Klassen 10-13 zu streichen, da ja die Kompetenz fürs Abitur mittlerweile darin zu bestehen scheine, „einfach abzuschreiben, was irgendwo steht“.

Seine Abrechnung mit überhasteten Bildungsreformen und unseligem Wirken der Bildungspolitiker setzte Martenstein mit der Frage fort, wie es dazu kommen konnte, dass der Begriff des Bildungsbürgertums allzu oft abwertend verwendet werde. Für Martenstein selbst, der sich als Arbeitersohn in der Vergangenheit in der Deutschen Kommunistischen Partei engagiert hatte, war das Bildungsbürgertum seit je ein „Sehnsuchtsort“, zu dem ihm das Gymnasium mit dem Angebot umfassender Bildung den Zugang eröffnet habe.

Vernichtende Kritik äußerte der Kolumnist an dem Verzicht auf Leistungsanforderungen kognitiver Art und an einer übertriebenen Lebensweltorientierung. Wenn es schlechte Gewohnheit geworden sei, ein schweres Abitur als Feind sozialer Gerechtigkeit zu diffamieren, so die rhetorische Frage des Referenten, müsste man dann nicht ebenfalls die Führerscheinprüfung mit ihrem rigiden Anspruch, dass alle Verkehrszeichen beherrscht werden sollen, abschaffen? Wenn andererseits die Lektüre der Klassiker der Weltliteratur zunehmend als nicht mehr zeitgemäß dargestellt und ein stärkerer Bezug des Unterrichts zur Lebenswelt der Jugendlichen gefordert werde, sollten dann nicht konsequenterweise, so der Autor mit einem Augenzwinkern in das Plenum, „Die besten Flirt-Tipps für Jungs und Mädchen“ in den Rang der Pflichtlektüre an den Schulen erhoben werden?

Seine Anerkennung und Wertschätzung gegenüber der Tätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern drückte Harald Martenstein resümierend in zwei Sätzen mit entwaffnender Klarheit aus: „Alles, was ich weiß, habe ich auf zweifache Weise gelernt, durch Bücher und Lehrer“ und „Dass ich heute vom Schreiben leben kann, verdanke ich vor allem der Schule und meinen Lehrern!“