Migration – Sprachförderung – Integration

Der Philologenverband informiert

1 - Ausgangslage

Im Jahr 2015 dürfte die Zahl der in die Bundesrepublik Deutschland eingereisten Flüchtlinge die Millionengrenze nahezu erreicht oder gar überschritten haben. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge ist jünger als 25 Jahre. Auch für die nahe Zukunft ist mit einer anhaltend starken Zuwanderung von Migranten zu rechnen. Damit „steht auch Rheinland-Pfalz vor einer der größten Herausforderungen der letzten Jahre, denn mit den Flüchtlingen kommen auch schulpflichtige Kinder hier an, die mittelfristig an unseren Schulen aufgenommen werden.“ (1) Der Anteil schulpflichtiger Kinder und Jugendlicher wird nämlich auf 20 bis 25 % geschätzt. Das Gros dieser Flüchtlingskinder, von denen manche unbegleitet nach Deutschland gekommen sind, befindet sich derzeit noch in den Aufnahmeeinrichtungen und hat somit die Schulen des Landes noch gar nicht erreicht.


2 – Bildungsvoraussetzungen als Herausforderung für die Schulen

In der öffentlichen Wahrnehmung verfügen viele der aus Syrien stammenden Flüchtlinge über eine gute bis sehr gute schulische und berufliche Qualifikation mit entsprechend mittelfristig positiven Perspektiven auf dem hiesigen Arbeitsmarkt. Der Bildungsökonom Ludger Wößmann kommt unter Auswertung der internationalen Schulleistungsstudien PISA und TIMMS aus dem Jahr 2011 jedoch zu ernüchternden Ergebnissen (2): „In Syrien schaffen 65 Prozent der Schüler nicht den Sprung über die Grundkompetenzen. In Albanien liegt die Quote bei 59 Prozent. Das heißt, dass zwei Drittel der Schüler in Syrien nur sehr eingeschränkt lesen und schreiben können, dass sie nur einfachste Rechenaufgaben lösen können. Und das bedeutet, dass diese Schüler in Deutschland, selbst wenn sie Deutsch gelernt haben, kaum dem Unterrichtsgeschehen folgen können. Vom Lernstoff hinken syrische Achtklässler im Mittel fünf Schuljahre hinter etwa gleichaltrigen deutschen Schülern hinterher.“ Tatsächlich dürfte sich die Situation auf Grund der katastrophalen Verhältnisse in vielen Teilen Syriens seitdem weiter verschlechtert haben, da es vielen Kindern vor Ort nicht mehr möglich ist, eine Schule zu besuchen. Angesichts dieser Befunde stehen die weiterführenden Schulen des Landes vor sehr großen Herausforderungen. Die Kinder und Jugendlichen bedürfen einer sehr intensiven sprachlichen Förderung und gezielter fachlicher Unterstützungsangebote. Der Prozess der schulischen Eingliederung steht vor der gleichermaßen bedeutsamen und schwierigen Aufgabe, eine zu dem individuellen Lernstand und Lernfortschritt adäquate Schulart und Klassenstufe zu definieren.

3 – Stand der schulischen Integration

Vor dem Hintergrund der starken Zuwanderung von Flüchtlingen und Asylbewerbern wurden von der Landesregierung im laufenden und für das kommende Haushaltsjahr Finanzmittel für die Sprachförderung um rund 18% erhöht. Diese Erhöhung bildet jedoch nicht die aktuell deutlich gestiegene und noch zu erwartende Zahl an Flüchtlingen ab. Neu geregelt hat das Bildungsministerium die sprachlichen Fördermaßnahmen für die Primar- und Sekundarstufe I sowie den Nachweis der Fremdsprachenkenntnisse, die insbesondere für den Eintritt bzw. die Aufnahme in die Oberstufe relevant sind.

3.1 - Sprachförderkurse

Die bisher angebotenen Eingliederungslehrgänge und Sprachvorkurse werden ersetzt durch ein einheitliches Angebot an Sprachkursen, die sich inhaltlich und in ihrem zeitlichen Umfang an den (nicht) vorliegenden Deutschkenntnissen orientieren:

In Deutsch-Intensivkursen werden Schüler ohne oder mit nur geringen Deutschkenntnissen gefördert. Diese Kurse haben eine Kursgröße von 8 bis 20 Schülern und umfassen in der Sekundarstufe I 15 bis 20 Wochenstunden. Landesweit werden derzeit 297 Deutsch-Intensivkurse angeboten und somit 62 mehr als noch zu Beginn des aktuellen Schuljahres. 4160 Schülerinnen und Schüler werden in diesen Kursen gefördert ([3], Stand vom November 2015).

Vierstündige Förderkurse richten sich an Schülerinnen und Schüler mit erheblichen Sprachdefiziten. Die Größe der Lerngruppe umfasst 4 bis 10 Lernende.

Eine Zweistündige Förderung erhalten Lernende, die bereits über Sprachkenntnisse verfügen, jedoch weiterer Unterstützung in Form des Sprachunterrichts bedürfen. Die Teilnehmerzahl bleibt unverändert bei 4 bis 10.

Die Vermittlung und Vertiefung deutscher Sprachkenntnisse sind elementare Voraussetzungen dafür, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund dem Unterricht folgen und mitarbeiten sowie neu soziale Kontakte zu ihren Mitschülern knüpfen können. Unter Berücksichtigung des dargelegten Befundes hinsichtlich der Bildungsvoraussetzungen bedarf es in der Regel einer längerfristigen Teilnahme an unterrichtsbegleitenden Sprachfördermaßnahmen.

Eine Sprachförderung in Englisch erhalten diejenigen Schüler, die in der Schule ihres Herkunftslandes kein Englisch als verpflichtende Fremdsprache hatten.

Diese Sprachförderkurse richten sich nur an Kinder und Jugendliche, die in der Primarstufe oder Sekundarstufe I aufgenommen werden. Sie sind jedoch nicht vorgesehen für Schüler mit Migrationshintergrund, die auf Grund ihres Alters und bisherigen Bildungsgangs sofort in die MSS eintreten könnten.

3.2 - Eintritt und Aufnahme in die Oberstufe

Auch für Schüler mit Migrationshintergrund gilt, dass die Belegverpflichtung in der Oberstufe erfüllt werden muss. Hinsichtlich der Fremdsprachennachweise wird es nunmehr ermöglicht, die Aufnahmevoraussetzungen in den Fremdsprachen (Unterricht in der 1. Fremdsprache von mindestens 6 Jahren und in der zweiten Fremdsprache von mindestens 4 Jahren) durch die Amtssprache ihres

Herkunftslandes zu erfüllen. Diese Fremdsprache muss dann bis zum Abitur fortgeführt und in die Qualifikation eingebracht werden.

Bietet die aufnehmende Schule diese Sprachen in ihrem MSS-Kanon nicht an, muss der Schüler im ersten Jahr Kenntnisse dieser Sprache durch Halbjahresprüfungen nachweisen. Dies liegt in seiner Verantwortung. Weiterhin muss der Schüler eine in der MSS neu einsetzende Fremdsprache durchgängig bis zum Abitur belegen.

Ebenso gilt für diese Schüler das der MSS zugrundeliengende System der Leistungsanforderung und der damit verbundenen Beurteilung. Diese darf nicht ausgesetzt werden.

3.3 – Problemfelder der schulischen Integration

• Während die Intensivphase der Sprachförderung landesweit systematisch aufgebaut und ausgebaut wird, ist eine Vereinheitlichung der nachgeordneten zwei- bis vierstündigen Förderkurse derzeit noch nicht in dem notwendigen Maß erkennbar. Es gibt es an vielen Schulen und außerschulischen Institutionen Förderangebote, die außerhalb des definierten Systems laufen und teilweise miteinander in Konkurrenz treten.

• Der Besuch aller Förderkurse muss für Schüler mit erheblichen Sprachdefiziten und Unterstützungsbedarf verpflichtend sein und darf nicht in die Beliebigkeit der Kinder und Jugendlichen bzw. ihrer Sorgeberechtigten gestellt werden. Teilweise „vagabundieren“ die Schüler aus verschiedensten Gründen zwischen diversen Sprachangeboten oder entziehen sich ganz den Förderangeboten.

• Derzeit gibt es für Bewerber für die Leitung und Durchführung von Sprachkursen keine verbindlich definierte fachliche und pädagogische Mindestqualifikation. Auch für die Flüchtlingskinder muss die Maxime gelten, dass sie von den für ihre spezifischen Bedürfnisse am besten ausgebildeten Lehrkräften unterrichtet werden. Der aktuell hohe personelle und finanzielle Bedarf für die Sprachfördermaßnahmen darf an dieser extrem wichtigen Nahtstelle nicht zu Billiglösungen verführen.

• Es mangelt derzeit am Einsatz geeigneter Diagnoseinstrumente, um Schülerinnen und Schülern den Besuch der ihrem Bildungs- und Entwicklungsstand entsprechenden Schulart zu ermöglichen.

4 – Forderungen des Philologenverbandes Rheinland-Pfalz

• Für den Sprachförderunterricht sind qualifizierte Lehrkräfte einzusetzen. Idealerweise haben diese die Ausbildung für Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Da es allerdings an Absolventen in DaZ mangelt, fordert der Philologenverband Rheinland-Pfalz schnelle und unbürokratische Weiterbildungsangebote für bereits im Schuldienst tätige Lehrkräfte sowie für arbeitslose Bewerber um eine Planstelle, die eine Lehrbefähigung vorrangig in den Fächern Deutsch, Englisch, Französisch oder Latein besitzen.

• Der Philologenverband Rheinland-Pfalz fordert, dass die in den Sprachkursen eingesetzten Lehrkräfte adäquat zu ihrer Ausbildung und Tätigkeit bezahlt werden.

• Es muss durch Bereitstellung entsprechender sprachlicher Förderangebote leistungsstärkeren Jugendlichen der Besuch der Oberstufe ermöglicht werden. Der Weg zum Abitur und einer akademischen Ausbildung darf diesen Jugendlichen nicht verschlossen bleiben. Der Philologenverband Rheinland-Pfalz setzt sich dafür ein, dass bis zum 23. Lebensjahr Bildungsangebote bereitstehen, weil viele jüngere Flüchtlinge wegen der Bürgerkriegssituation und längerer Aufenthalte in den Flüchtlingslagern vom Unterrichtsbesuch ausgeschlossen waren.

• Ausgehend vom Schulgesetz ist die Verbindlichkeit der Teilnahme an den Sprachförderkursen und die Mitarbeit der Eltern zur Unterstützung der schulischen Bildungs- und Integrationsaufgaben durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen.

Die Bedeutung des Einsatzes pädagogisch und fachlich gut ausgebildeter Lehrkräfte für die erfolgreiche Integration und deren langfristige positive wirtschaftliche Auswirkungen unterstreicht der Wirtschaftsjournalist und Buchautor Uwe J. Heuser unter Berufung auf eine bereits im Jahr 2009 vorgelegte Studie der Boston Consulting Group:

„Der Staat kann sein Geld nicht besser anlegen als in Migrantenbildung. Mit fünf bis zehn Milliarden Euro im Jahr könne man die Wertschöpfung im Land um das Dreifache vergrößern. Deutschkurse, schnelle Aus- und Weiterbildung, fast alles lohnt sich – und nichts so sehr wie guter Schulunterricht.“ (4)

Quellen:

1) Resolution des PhV vom 16.09.2015 zur Aufnahme der Flüchtlingskinder: „Jetzt handeln, bevor es zu spät ist“.

2) Ludger Wößmann im Gespräch mit Jan-Martin Wiarda: „Zwei Drittel können kaum lesen und schreiben“, in: „Die Zeit“, Nr. 47, 2015.

3) „Reiß: Unterrichtsversorgung bleibt auf hohem Niveau“, Pressedienst des MBWWK vom 26.11.2015.

4) Uwe Jean Heuser: „Die Jahrhundertchance“, in: „Die Zeit“, Nr. 46, 2015.

Bei Fragen, Kritik oder Anregungen wenden Sie sich bitte an:

Horst Wittig: carpe-vitam@t-online.de

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