Zu den im Herbst 2022 veröffentlichten Ergebnissen des IQB-Bildungstrends 2021 der Grundschule - Inhaltliche Debatte zum Rechtschreiberwerb statt Ablenkungsmanöver und Denkverbote

BLICK 357

Foto: Cornelia Schwartz

Anstöße zur Debatte: Offizielle Studie und Pressemitteilung des Philologenverbandes

 

Pressemitteilungen sollen im Idealfall Veränderungen anstoßen, zumindest aber regen sie Debatten an. Dies ist dem Philologenverband Rheinland-Pfalz mit seiner Pressemitteilung vom 01.07.2022 zu den Ergebnissen des IQB-Bildungstrends 2021, einer Studie zum Leistungsstand in der vierten Klasse, zweifelsohne gelungen: Unsere Forderung nach einem Schlussstrich unter erwiesenermaßen unbrauchbare Methoden und nach einem Ende der von den Ideologen der Hochschulen verordneten „Didaktik der Verwahrlosung“, in der Fehler nicht mehr als Lernchance begriffen und positiv aufgegriffen werden dürfen, fand bundesweit Gehör.

 

Was zunächst völlig unter den Tisch fiel, war die folgende Tatsache: Nicht die „Besserwisser“ vom Philologenverband waren es, die das vernichtende Urteil über den Leistungsstand (oje, das böse L-Wort) gefällt hatten: Es war, völlig unverdächtig, eine von der Kultusministerkonferenz in Auftrag gegebene Studie, der Bildungstrend 2021 (https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021/). Sie bestätigte letztlich nur das, was längst offenkundig war.

 

„Whataboutism“ bzw. Tu-quoque-Argumentation: Manöver zur Ablenkung von inhaltlichen Diskussionen

 

In der Woche des 1. Juli 2022 brach im Anschluss an unsere Verlautbarung in den Echokammern des Internet die übliche Philologen-Schelte los: „Die in ihrem Gymnasium, die meinen, sie wären etwas Besseres, provozieren und beleidigen uns, dabei können sie es ja selbst nicht besser, schließlich werden die Abiturienten auch alle immer schlechter …“. Unter dem Deckmäntelchen eines Pseudonyms oder mit unvollständigem Namen werden leider nicht nur sinnvolle Debattenbeiträge geschrieben.

 

Die geschilderte Art der Reaktion, die vom eigentlichen Problem ablenkt und stattdessen den Gegner desavouiert, greift ganz generell in der politischen Debatte um sich, egal, ob es um Ukraine-Krieg oder Umweltschutz geht. In der Rheinpfalz am Sonntag vom 10. Juli 2022 (S. 7) thematisierte Andreas Schlick sie unter der Überschrift „Was ist mit dir?“. Er bezieht sich dabei auf Olaf Kramer, Professor für Rhetorik und Wissenskommunikation am Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen. Beim sogenannten „Whataboutism“ geht es, fasst die Rheinpfalz zusammen, um die „Unart“, „kritische Fragen eines Gesprächspartners mit Gegenfragen und -vorwürfen [zu kontern]“. Mit der Frage „What about …?“ (Was ist eigentlich mit …?“) wirft man dem anderen Doppelmoral vor, um so „von der eigenen holprigen Argumentation abzulenken“. Bekannt ist diese Methode des Gegenvorwurfs („Auch du …“) auch als Tu-quoque-Argumentation.

 

Unterdrückung der Debatte durch „Nebelkerzen-Rhetorik“

 

Anfang Juli jedenfalls waren andere Verbände und Gewerkschaften sofort zur Stelle, um die Debatte um den Rechtschreiberwerb durch den Kniff des „Whataboutism“ im Keim zu ersticken. Mehr oder weniger plump suggerierten sie der eigenen Klientel, man schütze sie damit vor (vermeintlich) gegen sie gerichteter Kritik von Seiten des ach so bösen Philologenverbandes. Ähnlich wie schon vor fünf Jahren beim Erscheinen der letzten IQB-Grundschulstudie wollte man keinesfalls eine inhaltliche Diskussion führen.

 

„Whataboutism in Krisenzeiten“: Ein Interview von Radio Eins mit Prof. Olaf Kramer zum Nachhören

 

Prof. Kramer analysiert, es gehe bei dem genannten rhetorischen Mittel „nicht um einen Austausch von Argumenten, um ein Spiel von These und Antithese, das zu einer Synthese führen könne. ‚Whataboutism verhindert das Fortkommen in der Sache, beschneidet den Raum für rationalen Austausch und vernünftige Verständigung‘“. Eine solche Art der „Nebelkerzen-Rhetorik“, so wertet die Rheinpfalz abschließend, „verhöhnt unsere Debattenkultur“.

 

 

Erleichterung bei Grundschullehrkräften, die sich von der bisher verordneten didaktischen Norm eingeengt fühlen

 

Neben unschönen Reaktionen fand allerdings gleichzeitig eine intensive und sachliche Diskussion Platz im erregten Internet: Grundschullehrkräfte äußerten sich dazu, dass sie (insbesondere in Grundschulen, die in Ballungszentren liegen) nicht gleichzeitig allen gerecht werden können. Zu groß sei die Bandbreite zwischen Kindern, die noch gar nicht schulreif sind, Kindern, die zunächst sprachlich Vieles neu lernen müssen, und Kindern, die die gewünschten Voraussetzungen mitbringen.

 

Man muss diese Probleme benennen, um sie lösen zu können. Bei manchen Grundschullehrkräften hatten wir das Gefühl, dass sie geradezu erleichtert waren, dass wir die vorherrschende Didaktik angegriffen hatten, weil sie den Weg von fast durchgängig eingesetzten Lerntheken respektive Gruppenpuzzles und das Zurückstutzen des Lehrers auf die Rolle als Lernberater in ihrer Klasse als wenig zielführend erleben. In einem Internetbeitrag aus der Perspektive einer Grundschullehrkraft wurde konstatiert: „Wenn wir uns mal ganz ehrlich machen, hat der Verband [gemeint war der Philologenverband] doch in großen Teilen recht.“

 

Bildungstrend 2016, Bildungstrend 2021: Dazwischen die Sonderprogramme und Zusatzmaterialien …

 

Wie schon nach dem vernichtenden Urteil des IQB-Bildungstrends 2016, also bei der vormaligen Grundschulstudie, stellt sich nun die Frage: Belässt man im Großen und Ganzen alles beim Alten? Legt man, wie dann 2017 in Rheinland-Pfalz, alibimäßig ein paar Programme auf, die auch Grundschullehrkräfte als halbherzig bezeichnet haben? Wir erinnern in diesem Zusammenhang an Programme im Nachgang der Grundschulstudie von 2016 wie „Mathe macht stark“ oder „Lesen mit BiSS“.

 

Schon damals hatte der Philologenverband versucht, im Sinne von Grundschullehrkräften zu argumentieren, und sich gegen ein Überfrachten des Unterrichts durch weitere Zusatzmaterialien zu Wort gemeldet. Aus eigener Erfahrung ist klar: Der Unterricht wird selten dadurch besser, dass man Lehrkräften und Lerngruppen noch mehr aufhalst. Sinnvoll wäre eine Konzentration aufs Wesentliche und das Hinterfragen bisher propagierter Methoden.

 

Rechtschreibdidaktik immer wieder als Stein des Anstoßes

 

Im Zentrum der aktuell geführten Debatte steht die Methode der Rechtschreibdidaktik. Vehement wird die Existenz des „Schreibens nach Gehör“ geleugnet – sowohl Politik als auch Grundschulgewerkschaften streiten sie ab und propagieren verblüffenderweise im gleichen Atemzug nach wie vor das Schreibenlernen mit der „Anlauttabelle“. Hier wird jedem Buchstaben ein Bildchen zugeordnet: Der „Anlaut“ des darauf erkennbaren Wortes wird mit dem Buchstaben verknüpft. Kinder sollen mit Hilfe dieser Anleitung dann erst einmal drauflosschreiben, sollen so schreiben, wie sie es hören, ohne gleich verbessert zu werden. Die Argumentation dieser Didaktik: Schon mit dem nachträglichen vorsichtigen Hinweis auf die korrekte Schreibung beschneide man die Kreativität der Kinder und nehme ihnen die Freude am Schreiben. Tatsächlich aber kann man Fehler im Unterricht oder in der Einzelrückmeldung auch behutsam als Lernchance aufgreifen und Kindern dadurch späteres mühsames Umlernen ersparen.

 

„Schreiben nach Gehör“ als besondere Hürde für Kinder aus sozial schwachen Migrantenfamilien

 

Spätestens seit einer Metastudie von Prof. Reinold Funke ist bekannt, dass beim „Schreiben nach Gehör“, wie es landläufig bezeichnet wird, die Gefahr, abgehängt zu werden, für Kinder mit Migrationshintergrund am größten ist, wenn sie aus sozial schwächeren und bildungsfernen Bevölkerungskreisen kommen. Dies trifft nicht nur auf die ursprüngliche Methode „Lesen durch Schreiben“ des 1939 in der Schweiz geborenen Reformpädagogen Jürgen Reichen zu. Auch die von Hans Brügelmann weiterentwickelte Methode, in der Kinder dazu angeleitet werden, sich insbesondere bei häufigen Wörtern nicht konsequent, sondern nur langsam und zunehmend an der sogenannten „Erwachsenenschrift“ oder „Buchschrift“ zu orientieren, setzt unter Negierung der gesellschaftlichen Realität voraus, dass Deutsch, und zwar korrektes Hochdeutsch, beherrscht wird und zweisprachige Kinder die Sprachen bei Verwendung der Anlauttabelle auseinanderhalten können.

 

Rückkehr zur Fibelmethode: Ein deutlicher Fortschritt für die große Mehrheit aller Kinder

 

Dem Philologenverband Rheinland-Pfalz liegen darüber hinaus zahlreiche Rückmeldungen von Eltern und Lehrkräften weiterführender Schulen vor, wonach auch Kinder mit sprachlich korrekten Vorbildern aus bildungsnahen Elternhäusern bei der erwähnten Methode nicht die notwendige sprachliche Förderung, wie sie im Gegensatz dazu die Fibel-Methode bereithält, erfahren. Die Hilferufe von Eltern und Lehrkräften kamen dabei nicht nur sehr zahlreich aus Rheinland-Pfalz, sondern zuletzt auch aus Bayern. Essentiell ist für viele Kinder unabhängig vom Elternhaus, dass sie die Buchstaben gemeinsam mit der Lehrkraft erlernen, die Strichrichtung und Abfolge einüben und damit die Buchstaben wirklich schreiben lernen und nicht nur (in immer wieder unterschiedlicher und beliebiger Strichrichtung und Abfolge) abmalen, wie es häufig bei der Arbeit mit der Anlauttabelle geschieht (s. Leitartikel vom September 2022).

 

Gelingensbedingungen an Grundschulen schaffen: Kein Festhalten an Methoden, wenn sie nicht funktionieren

 

In der von der Pressemitteilung des Philologenverbandes angestoßenen Debatte im Internet kochte Anfang Juli 2022 hoch, was dringend ausgesprochen werden muss: Es ist überfällig, dass Grundschullehrkräfte gegenüber ihrem Verband bzw. ihrer Gewerkschaft klar und deutlich benennen, was sie brauchen, um alle Kinder bestmöglich fördern zu können,

 

  • sei es die Wiedereinführung des Konzepts der Schulreife beim Übergang vom Kindergarten in die Grundschule,
     
  • seien es mehr Sprachförderung im Fach Deutsch und kleinere Klassen in Brennpunktschulen,
     
  • sei es ein überarbeiteter Teilrahmenplan Deutsch, in dem dann eben nicht mehr unterstellt wird, es sei verwerflich, Fehler als Lernchance zu nutzen,
     
  • die Abkehr vom „Schreiben nach Gehör“ oder wie auch immer man es nennen mag oder
     
  • der Abschied vom frühen Fremdsprachenlernen dort, wo es wenig effektiv ist und die Zeit für das Kerngeschäft fehlt.
     

Es ist wichtig, dass diese Diskussion nun an den Grundschulen geführt wird. Sie darf nicht wieder durch Ablenkungsmanöver und Denkverbote abgebrochen werden. Die Zeit drängt.
 

Schon seit Jahren fordern Mitglieder der zweijährlichen Vollversammlung des Philologenverbandes immer wieder die Abschaffung des „Schreibens nach Gehör“, den Abschied vom Fremdsprachenunterricht in der Grundschule und die Konzentration auf das Erlernen einer echten Schreibschrift.
 

Unterstützung erhält der Philologenverband aus Heidelberg, Bonn und anderen Universitäten: