Die Unschärferelation in der Pädagogik oder: Warum kann ‚die Wissenschaft‘ nicht bestätigen, was sich Schülern, Eltern und uns Lehrkräften als Gewissheit aufdrängt?

BLICK 346

Foto: Jochen Ring

Wie kann es eigentlich sein, so fragen sich unzählige Lehrkräfte, genauso wie Schüler und Eltern, dass sogenannte Experten bzw. „Expertenprediger“ (zu diesem Terminus s. Caspar Hirschi, FAZ vom 02.01.2019) immer wieder ‚wissenschaftliche‘ Studien produzieren, gemäß denen die Größe der Lerngruppe für den Unterrichtserfolg eine mehr oder weniger untergeordnete Rolle spielen soll. Neben Interessenkonflikten, die m.E. bei Bildungsökonomen wie Prof. Dr. Ludger Wößmann (s. u.a. „Blick ins Gymnasium“ Nr. 317) offen zutage treten und fast schon ins Absurde abgleiten, wenn gefordert wird, Finanzmittel nicht für kleinere Lerngruppen, sondern für verstärkte professionelle Evaluation zur Verfügung zu stellen, liegt, so scheint mir, durchaus ein methodischer Grund für das prinzipielle Versagen der empirischen Pädagogik in diesem Punkt vor. Man könnte von einem ‚blinden Fleck‘ oder auch der ‚Unschärferelation in der Pädagogik‘ sprechen.
 

Die Unschärferelation im Film und in der Schule
 

Die Heisenberg‘sche Unschärferelation geht auf einen der wichtigsten deutschen Physiker des 20. Jahrhunderts zurück und hat nicht nur in den Kreisen eingefleischter Cineasten aufgrund einer der vielen skurrilen Episoden in dem wunderbaren Film „The Man Who Wasn’t There“ der Coen-Brüder Beachtung gefunden. Hier formuliert die Hauptfigur mit Verweis auf Heisenberg den denkwürdigen Satz „Looking at something changes it“, der trotz seiner Banalität (oder gerade deswegen) noch keinen Eingang in die empirische Pädagogik gefunden hat. Über genuin physikalische Aspekte der Angelegenheit möchte ich mich selbstverständlich nicht auslassen, dies möge den Kollegen mit der Fakultas für Physik überlassen bleiben. Ein für unsere Zwecke gewinnbringender Transfer hat jedoch in einem Lehrwerk für den Philosophieunterricht der Sekundarstufe II (Gerd Stein „Erkenntnistheorie – Logik. Begriffe definieren, Schlüsse ziehen, Gegensätze begreifen“, Düsseldorf 2003, S. 26f.) stattgefunden. Neben Werner Heisenberg selbst kommt dort der Physiker und bekannte Bestseller-Autor Fritjof Capra zu Wort. Den Anwendungsbezug für Heisenbergs Unschärferelation formuliert er folgendermaßen (S. 27): „In der Atomphysik können wir nicht von den Eigenschaften eines Objekts als solchem sprechen. Sie sind nur im Zusammenhang mit der Wechselwirkung des Objekts mit dem Beobachter von Bedeutung. Mit Heisenbergs Worten: ‚Was wir beobachten, ist nicht die Natur selbst, sondern Natur, die unserer Art der Fragestellung ausgesetzt ist.‘ Der Beobachter entscheidet, wie er die Messungen aufstellt, und diese Anordnung entscheidet bis zu einem gewissen Grad die Eigenschaften des beobachteten Objekts. Wird die Versuchsanordnung verändert, ändern sich die Eigenschaften des beobachteten Objekts ebenfalls.“
 

Ableitungen für die Wissenschafts- und Unterrichtspraxis
 

Von dieser Feststellung aus bedeutet es nur noch einen kleinen Schritt herauszufinden, worauf der ‚blinde Fleck‘ der empirischen Pädagogik beruht. Stellen wir uns vor, wir würden selbst eine Untersuchung zu der Frage, inwiefern kleinere Lerngruppen bessere Wissens- und Kompetenzvermittlung bewirken, durchführen. Als Forschende würden wir uns wohl auf Unterrichtsstunden stützen, deren gewollter Ertrag relativ klar zu umreißen ist: Themen und Inhalte der Mathematik wie quadratische Gleichungen oder der Satz des Pythagoras scheinen dafür besonders geeignet, die der geisteswissenschaftlichen Fächer eher weniger (und zwar deshalb, weil das Verständnis des Satzes des Pythagoras ein völlig anderes und eher überprüfbar ist als dasjenige, das sich etwa auf die Römische Republik oder die Französische Revolution bezieht). Nun müssen in einer vergleichenden Untersuchung, bei der jeweils unterschiedliche Schülergruppen in den Blick genommen werden – mindestens eine große und eine kleine –, subjektive Faktoren, die in den individuellen Eigenschaften der zu Unterrichtenden liegen, möglichst ausgeschaltet werden. Täte man dies nicht und nähme man in den untersuchten Stunden, wie es ja sonst unser Alltag ist, auf individuelle Besonderheiten der Schülerinnen und Schüler Rücksicht, wäre die Untersuchung im Sinne der Vergleichbarkeit wertlos. Ein aussagekräftiger Vergleich, der gemäß wissenschaftlichem Standard irgendwie auch reproduzierbar sein muss, darf sich bei ansonsten gleichbleibenden äußeren Bedingungen ja einzig und allein in der Größe der jeweils unterrichteten Lerngruppen unterscheiden. Es liegt auf der Hand, dass eine solche – methodisch zwingend erforderliche – Versuchsanordnung dem Prinzip der ‚pädagogischen Unschärferelation‘ unterliegen muss: Die Forschenden als erkennende Subjekte reduzieren aus wissenschaftsmethodologischen Gründen äußere Einflussfaktoren wie die Vielfalt möglicher Interaktionen, um einen tatsächlichen Vergleich der jeweils untersuchten Objekte (die bei den Schülern messbaren Lernzuwächse) herstellen zu können. Unter diesen Voraussetzungen reduziert sich im betreffenden Versuch das pädagogische Potential spontaner Interaktionen zwischen Lehrkraft und Lerngruppe(nmitgliedern) bzw. innerhalb der Lerngruppe mehr oder weniger auf Null. Zum Zweck der Vergleichbarkeit und Standardisierung verzichtet man daher weitgehend auf dasjenige, was gerade die Chance kleinerer Lerngruppen darstellt. Es ist davon auszugehen, dass die ‚wissenschaftlichen‘ Untersuchungen, die unsere Erfahrungen mit kleineren Lerngruppen zu widerlegen scheinen, sich auf eine Art programmierten Unterricht stützen, bei dem außer der Gruppengröße alle anderen Rahmenbedingungen streng vergleichbar und wiederholbar sind. Damit konterkariert die wissenschaftlich begründete Methodologie das Ziel der Untersuchung dadurch, dass das Potential kleinerer Lerngruppen, nämlich die (im Hinblick auf Person und Umstand) individuelle und eben nicht standardisierte pädagogische Interaktion, weitgehend ausgeblendet wird. Wir dürfen also zu dem Schluss kommen, dass Erfahrungen, von denen die geschätzte Kollegin Katenkamp und viele andere berichten, eine hohe lebensweltliche Evidenz haben, aus wissenschaftsmethodischen Gründen jedoch nicht gebührend erfasst werden können. Und dennoch sollten sie von verständigen Bildungspolitikerinnen rezipiert und zu konstruktiver Politik verarbeitet werden!

 

Aus gutem Grund setzt sich der Philologenverband daher auch weiterhin gegen die Stimmen von Expertenpredigern wie Wößmann, Schleicher und OECD als Ganzes für kleinere Lerngruppen ein