Die Zauberformel im Zeitalter des Internets: öfter mal abschalten und nachdenken!

Foto: Cornelia Schwartz

Im Paradies der Aufklärung?

 

Nie schien es leichter, sich als mündiger Bürger alle Informationen zu besorgen, die man braucht, um sich ein Bild zu machen. Rund um die Uhr und aus allen Gegenden der Welt stehen uns im Zeitalter des Internet ungeheure Mengen an Informationen, aber auch Falschmeldungen zur Verfügung, daneben Faktenchecks von seriös bis unzuverlässig. Je nach Zeit und Wissensdurst kann man intensiv über Themen recherchieren, sich einlesen bis ins kleinste Detail.

 

Tatsächlich allerdings gibt es beunruhigende Gegentendenzen zur Aufklärung durch das Internet, die auch von der großen Internetgemeinde kritisch wahrgenommen werden: Die Digitalkonferenz „re:publica“ etwa stellte ihre Veranstaltung Anfang Mai 2019 unter das Motto „tl;dr“ („too long, didn’t read“). Die Organisatoren thematisierten damit die Tendenz vieler Leser, im Internet nur noch häppchen- und ausschnittsweise zu lesen.

 

Lesezeit: 3 Minuten

 

Egal, wo man sich im Internet befindet, die nächste Neuigkeit ist immer nur einen Klick weit entfernt, so dass mittlerweile zur besseren Orientierung bei vielen journalistischen Texten bereits die Lesezeit angegeben ist, um den Lesern die Entscheidung für einen Text zu erleichtern. Allerdings erweisen sich schon Lesezeiten von drei Minuten – je nach Altersgruppe – als problematisch, so dass diese Texte kaum eine Chance haben, wahrgenommen zu werden. Komplexe Probleme aber lassen sich nicht immer in ein bis zwei Minuten Lesezeit erläutern und begreifen. Hier gilt es zu entschleunigen.

 

Mehr Muße für wirkliche Weisheit

 

Denn wohin führt das Phänomen, Texte, wenn überhaupt, nur noch oberflächlich zu lesen? Wohin führt die Ungeduld beim Lesen komplexerer Texte und Zusammenhänge? Amerikanische Autorinnen und Autoren, unter ihnen Steve Wasserman und Maryanne Wolf, fragen sich, ob nicht die tägliche Lawine an Informationen den Raum, der für wirkliche Weisheit notwendig wäre, verdrängt: „Does the daily avalanche of information banish the space needed for actual wisdom?”

 

Dieser Fragen müssen wir uns stellen: Was macht das ständige Online-Sein mit uns? Was macht es mit unserer Gesellschaft? Überfordert uns die Masse an Informationen? Brauchen wir mehr Muße zum Nachdenken, zum Verdauen von einzelnen ausgewählten Informationen?

 

Im Jahre 1784 hatte der Philosoph Immanuel Kant in seinem Essay „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ seine vielzitierte Definition der Aufklärung veröffentlicht:

 

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

 

Immer mal wieder ausschalten

 

Dazu wollen wir uns selbst und unsere Schülerinnen und Schüler bringen: uns in einen Text zu vertiefen, über ihn nachzusinnen, ohne schon in Gedanken beim nächsten Informationshäppchen zu sein. Beschwerlich ist der Weg aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ allerdings auch 235 Jahre nach Kants Essay immer noch. Damit man den Weg findet, raten immer mehr Menschen dazu, Handy und Internet nicht permanent eingeschaltet zu lassen, sondern sich Zeit zu nehmen, um sich ohne Störung oder Ablenkung ganz auf eine Sache konzentrieren zu können.

 

Unter ihnen sind Prof. Manfred Spitzer mit seinem Bestseller von 2012, „Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“, Alexander Markowetz mit „Digitaler Burnout: Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist“ und Dr. Alexander Jatzko vom Westpfalz-Klinikum in Kaiserslautern, der mit Vorträgen unter anderem beim Landeselterntag 2018 und bei einer Veranstaltung des Verbandes der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen 2019 bewusst die Öffentlichkeit sucht, um über einen sinnvollen Umgang mit digitalen Medien und das regelmäßige Ausschalten aufzuklären.

 

Stavanger-Erklärung: Lesen auf Papier

 

Weitere Aspekte brachte die Stavanger-Erklärung in die Diskussion. Dazu schlossen sich im Oktober 2018 knapp 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen. Sie fanden unter anderem Folgendes heraus: Leser an digitalen Geräten, so der Befund der Wissenschaft, neigten häufiger zu Selbstüberschätzung, was ihr Leseverständnis betrifft. Tatsächlich aber verstünden Leser, insbesondere wenn sie unter Zeitdruck seien, längere Informationstexte in Papierform besser als in der digitalen Version. Daraus folgern die Unterzeichner der Erklärung einerseits, dass man Strategien entwickeln müsse, damit Leser auch an digitalen Geräten zu einem höheren Leseverständnis gelangten.

 

Der beobachtete Effekt der Überlegenheit von Papier gegenüber digitalen Geräten habe sich im Laufe der Zeit aber unabhängig von der Altersgruppe und von der Erfahrung im Umgang mit digitalen Geräten sogar noch verstärkt. Daher betonen die Forscher andererseits die Wichtigkeit von Offline-Zeit für das Lesen, von der Bedeutung des Lesens auf Papier, insbesondere in der Grundschule, aber auch darüber hinaus. Der Philologenverband Rheinland-Pfalz unterstützt die Forderungen der Stavanger-Erklärung mit Nachdruck und setzt sich für einen wohldosierten Einsatz digitaler Medien in den weiterführenden Schulen ein.